© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Fragwürdiges Korrektiv zum Parteienstaat
Michael Noe: Berufsständische Elemente in den deutschen Staatsverfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts
Hans-Helmuth Knütter

Politik- und Parteienverdrossenheit, Korruption, Eigensucht – das sind die Vorstellungen vieler Bürger, wenn es um die Parteien geht. Deren Funktionäre sehen die Sache natürlich anders. Die Parteien seien ein unverzichtbarer Faktor, eine Grundlage der Demokratie. Ohne sie könne eine parlamentarische Demokratie heute nicht mehr existieren.

Das Grundgesetz hat ihnen deshalb in Artikel 21 Verfassungsrang zugebilligt. Sie sollen an der Willensbildung des Volkes "mitwirken". Soweit der Buchstabe der Verfassung. Tatsächlich aber durchdringen und beherrschen die Parteien das öffentliche Leben, Regierung und Verwaltung und parteipolitisieren selbst die Justiz. Auch das Bundesverfassungsgericht, zum Hüter der Verfassung bestellt, teilt sich in einen "roten" und in einen "schwarzen" Senat, wie es schon seit Adenauers Zeiten ohne Scham und Hemmung geschieht. Unbestritten leben wir in einem Parteienstaat, der sich immer mehr zu einer Funktionärsoligarchie entwickelt. Die wachsende Kompliziertheit der Verhältnisse begünstigt die Herrschaft der Experten, manchmal auch "Technokratie" genannt. Die "Volksherrschaft" erweist sich als Fiktion, die Behauptung vom selbstbestimmenden, "mündigen" Staatsbürger als Lüge, weil er von zynischen Parteifunktionären als unmündiges Stimmvieh behandelt wird. Wenn die "Mündigen" mal nicht so wollen, wie sie nach dem Streben des Parteienkartells sollen, dann wird gegen die "Luftherrschaft über den Stammtischen" und gegen den "Populismus" gewettert. Berechtigte Einwände gegen die eingeschränkt demokratischen Kartellparteien. Aber was ist denn die Alternative?

Der überparteiliche Diktator, von dem vor 1933 die Rettung vor dem "zersetzenden" Parteiengeist erwartet wurde, erwies sich als Führer in die Katastrophe. Also kommt die Rettung aus der gegenteiligen Richtung, der Ausweitung der Demokratie im plebiszitären Sinne? Kann auf diese Weise der Einfluß von Parteifunktionären begrenzt werden? Die moderne Politik ist ungeheuer kompliziert. Finanzen, Renten, Globalisierung – nur noch Experten blicken durch, und oft genug nicht einmal die. Hier können die "Mündigen" mit Plebisziten nur Unheil anrichten, warnen die Vertreter des Parteienstaates, und sie haben recht, obwohl ihre Ablehnung mindestens zur Hälfte von Posten- und Existenzangst inspiriert ist. Plebiszite bieten also nur eine sehr eng begrenzte Möglichkeit, die Oligarchie der Parteifunktionäre und der Experten zu begrenzen. Aber bieten uns nicht die Berufsstände einen Ausweg?

Diese Frage behandelt Manfred Noe in seiner Dissertation, die er bei Karl Albrecht Schachtschneider (Erlangen-Nürnberg) einreichte. Damit weckt er Erinnerungen an vergessene politische Möglichkeiten. Noch Anfang der fünfziger Jahre hat es ernsthafte Versuche gegeben, die Wirkung der sich erst entwickelnden Parteiendemokratie durch eine berufsständische Zweite Kammer zu begrenzen. In Bayern wurde das mit dem Senat in der Verfassung von 1946 verwirklicht. Allerdings wurde er durch einen Volksentscheid am 8. Februar 1998 wieder abgeschafft. Der Grundgedanke, nicht nur der einzelne Staatsbürger solle repräsentiert werden, sondern auch die sozialen Gliederungen, widersprach offenbar der Zeittendenz zur Atomisierung und Vereinzelung in der Gesellschaft.

Genau hier setzt das berufsständische Verständnis ein. Alle Angehörigen einer Berufsgruppe bilden einen "Stand" und sollen ihre Interessen wirkungs- und verantwortungsvoller als durch die Parteien vertreten. Man sollte das nicht vorschnell zurückweisen. Auch die Gewerkschaften plädieren für die Interessen der Arbeitnehmer. Ständisch-korporatistisches Denken ist hier nicht sehr weit entfernt. Allerdings wäre es an dieser Stelle sicher hilfreich und erhellend gewesen, wenn Noe sich mit Ulrich von Alemanns Neokorporatismustheorie und mit Max Webers und Wilhelm Grewes Kritik am ständischen Denken auseinandergesetzt hätte. In der Tat begegnet die Verwirklichung ständischer Vorstellungen in der heutigen Zeit erheblichen Widerständen, weil die Pluralisierung der Weltanschauungen seit der Aufklärung die Ständegesellschaft zugunsten der Klassengesellschaft auflöste, in der sich bürgerliche, adlige und proletarische Interessenparteien auf ideologischer Grundlage bildeten. Von dieser Entwicklung konnten die Stände nicht unberührt bleiben. Bevor man nun Noes Ideen als illusorisch abtut, ist zu beachten, daß Sloweniens Verfassung von 1991 und die Irlands seit 1937 eine berufsständische Kammer kennt. Es wäre gut gewesen, wenn Noe sich hier zu praktischen Erfahrungen geäußert hätte, gerade weil das bayerische Modell scheiterte. Deshalb ist Noes Vorschlag, auch in Deutschland eine solche berufsständische Vertreten als Korrektiv zum Parteienstaat zu errichten, mit Skepsis zu begegnen, was die Realisierbarkeit betrifft. Aber dennoch: Noe bietet einen Denkanstoß für eine bessere Gestaltung der sich von ihren Ursprüngen entfernenden parlamentarischen Ordnung. Unter diesem Aspekt hat die Untersuchung ihren Wert und ist mit Gewinn zu lesen.

 

Manfred Noe: Berufsständische Elemente in den deutschen Staatsverfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Verlag Neue Wissenschaft, Frankfurt/M. 2000, 223 S., 58 Mark.


 
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