© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Es gibt noch viel zu tun
Wirtschaft: Der Wiederaufbau Mitteldeutschlands wird noch lange dauern / Fehlende Arbeitsplätze und Wohnungsleerstand
Fritz Schenk

Um die Jahrtausendwende hatte Bundestagspräsident WolfgangThierse (SPD) darauf hingewiesen, daß die östlichen Länder beim Aufholprozeß mit den westlichen auf der Stelle treten. Das war vorsichtig ausgedrückt. Denn angesichts des Abstands, der zwischen den 45 Jahre getrennten Teilen in unserem Lande nach wie vor herrscht, heißt "auf der Stelle treten" für den Osten real, daß der Abstand sogar wieder größer wird. Es ist in diesem Zusammenhang ja immer wieder daran zu erinnern, daß sich die Fachwelt 1990/91 darüber einig gewesen war, daß bei einem jährlichen Wachstum von zwischen zwei und drei Prozent (das der Westen ja auch tatsächlich hat), der Osten auf zwischen zehn und fünfzehn Prozent kommen müßte, um bis etwa 2015/20 Gleichstand herzustellen. Thierse hatte angesichts des östlichen Schleppgangs noch mehr Hilfen aus dem Westen (insbesondere aus der Bundeskasse) angeraten.

Doch es sind nicht nur Stimmen aus der Politik – und auch nicht nur solche aus westlichen Bundesländern oder wirtschaftswissenschaftlichen Instituten –, die Fragezeichen hinter die bisherige Behandlung des Aufbaus Ost setzten, sondern auch solche aus den neuen Ländern. Diese sind gerade deshalb ernst zu nehmen, weil sie gewissermaßen von "vor Ort" kommen. Sie machen deutlich, daß es sich bei der Aufgabe längst nicht mehr in erster Linie um eine Finanzfrage handelt. Nichts läßt dies deutlicher werden, als daß wir es nach wie vor mit einer kräftigen Abwanderung vor allem junger Menschen (und unter ihnen wiederum insbesondere bestens ausgebildete Fachleute) von Ost nach West zu tun haben. Etwa zwei Millionen Einwohner hat das frühere DDR-Gebiet seit 1989/90 verloren. Hauptsächlich in den ländlichen Räumen sind die meisten Leerstände an Wohnraum zu verzeichnen, ja dort setzt sogar schon wieder der Verfall des (erst nach der Wende renovierten) Wohnraums ein.

Doch bei so viel vordergründigem Gerangel ausschließlich ums liebe Geld konnte nicht ausbleiben, daß inzwischen auch Ministerpräsidenten (Bernhard Vogel) und Regierungsvertreter CDU-regierter Länder mit ins Horn um die Erhaltung (wenn möglich Steigerung) des Geldsegens aus dem Westen stießen. Dabei wäre es allerhöchste Zeit, den bisherigen Aufbau Ost kritisch zu analysieren und ihn in die Gesamtsicht der dringend reformbedürftigen deutschen Ordnungspolitik einzubeziehen.

Zur Erinnerung: Alle Bestandsaufnahmen über den Zustand der DDR an ihrem Ende (nicht zu vergessen die, welche SED-Chef Krenz nach seinem Sieg über Honecker Ende Oktober 1989 hatte aufstellen lassen – Stichwort "Schürer-Bericht") hatten den totalen wirtschaftlichen Bankrott registriert. Sie wäre ab Frühjahr 1990 nicht mehr handlungsfähig gewesen. Der Rückstand in der Leistung pro Beschäftigten (Produktivität) gegenüber Westdeutschland lag bei fast 70 Prozent; ihre Produktionsanlagen waren überaltert und zu 60 Prozent verschlissen; die Auslandsverschuldung war so hoch, daß sie die internationale Zahlungsunfähigkeit hätte erklären müssen; mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wäre fast ihr gesamter Außenhandel weggefallen, Rohstoffe und Energieträger nicht mehr zu importieren gewesen; es erübrigt sich, die gesamte Katastrophenbilanz noch einmal auszubreiten.

An den beiden ersten Aufbauprogrammen Ost von 1991 und 1994, womit real mehr als 1.000 Milliarden Mark in den Osten transferiert wurden, hatte kein Weg vorbeigeführt. In diese Zeit fielen denn auch die hohen Wachstumsraten (jährlich rund zehn Prozent), von denen nicht wenige Beobachter glaubten, das sei nun jener Schwung, der zur allgemeinen und schnellen Aufholjagd führe. Aber das war ein Strohfeuer und hauptsächlich dadurch entfacht, daß die wichtigsten Aufräumarbeiten in der Infrastruktur (Verkehr, Ver- und Entsorgungssysteme, Kommunikation, Wohnungen, Handel, Dienstleistungen etc.), die Ausfälle in der industriellen Fertigung weitgehend überspielt, die eigentliche Misere verdeckt hatten.

Diese bestand darin, daß der Schwerpunkt vor allem auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen in den Großbetrieben gelegt wurde (Schwermaschinen- und Anlagenbau, Chemie, Werftindustrie). Das kennzeichnete sowohl die Fehleinschätzung der Regierung Kohl wie die der damaligen Opposition aus Rot-Grün (und PDS), die alle nicht müde wurden, die "Erfahrungen und guten geschäftlichen Kontakte der DDR zum gesamten Osten" zu preisen. Sie glaubten und hofften, das könne so weiter oder sogar noch besser laufen, daraus ließe sich nun Honig für das wiedervereinigte Deutschland saugen und die Beseitigung des östlichen Trümmerhaufens gewissermaßen von selber bezahlen.Wer dem damals widersprach und darauf hinwies, daß der Osthandel der DDR seit je allein Angelegenheit des Gesamtsystems der integrierten sozialistischen Planwirtschaft gewesen war, daher als reiner Tauschhandel ohne reale Wertschöpfung angesehen werden mußte und sich schon seit dem Machtantritt Gorbatschows festgefahren hatte, wurde als unbelehrbarer Kalter Krieger und Antisozialist abqualifiziert.

Spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall ihres Imperiums 1991/92 hätte erkannt werden müssen, daß das eine schlimme und folgenreiche Fehlkalkulation gewesen war. Nun rächt sich, daß hauptsächlich auf den Staat und seine Regularien gesetzt wurde. Niemand bestreitet, daß etliche Großunternehmen Beachtliches geleistet haben. Niemand will zum Beipiel das Engagement von Lothar Späth und den Erfolg mit "seiner" Je-Optik kleinreden, viele andere Fälle müßten genannt werden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Basis zu schmal ist, der Aufschwung sich noch lange nicht von selber trägt und auf die hohen finanziellen Zuschüsse an den Osten nach wie vor nicht verzichtet werden kann.

Wesentlichster Schwachpunkt ist der noch immer unbedeutende Mittelstand. Ihn kann kein Staat "schaffen". Im Gegenteil: Staatliche Überregulierung und Bürokratisierung verhindern ihn oder richten ihn gar zugrunde. Die SED hatte ja vor allem das getan und seine klügsten und einfallsreichsten Köpfe in den Westen vertrieben, wo die meisten als Flüchtlingsunternehmer Fuß gefaßt und ganz wesentlich zum bundesdeutschen Wirtschaftswunder beigetragen haben. Ihn für den Osten wieder zu gewinnen, hat der Einigungsvertrag mit seinen die "Wirtschaftsflüchtlinge" diskriminierenden (und sie durch den vermeintlichen Rechtsstaat ein zweites Mal enteignenden) Bestimmungen ausgeschlossen. Ihr Wissen, ihre im Westen wieder aufgebauten weltweiten Kontakte, ihre Kundenverbindungen, finanziellen Möglichkeiten und betriebwirtschaftlichen Erfahrungen fehlen auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung im Osten an allen Ecken und Enden.

Unbestritten haben unsere Landsleute im arbeitsfähigen Alter enorme Lasten an Zeit und Aufnahmebereitschaft aufgebracht, um sich für die neuen Anforderungen fit zu machen. Aber angesicht der schmalen Kapitaldecke, über die alle Mitteldeutschen nach der Währungsunion verfügten (die SED hatte für eine hohe Sparquote ihrer Untertanen gar keine Möglichkeiten gelassen), fehlt es überall an Polstern für das Wagnis geschäftlicher Selbständigkeit. Mit 700.000 werden die auch nach zehn Jahren noch ungeklärten Eigentumsfälle aus der sozialistischen Enteignungspolitik beziffert. Es dürfte für auch nur einigermaßen realitätsbezogene Politiker doch nicht so schwer sein zu begreifen, daß die Liebe zur früheren Heimat, zum Elternhaus oder dem väterlichen Betrieb von diesen Hunderttausenden ein Vielfaches an Impulsen auslösen würde, gegenüber dem fragwürden (und wie die 700.000 rechtlichen Einsprüche zeigen, bisher auch erfolglosen) Bemühen von Ämterbürokraten, dieses Raubgut als staatliche Hehler für den Fiskus zu verschachern. Da aber weder eine rechtliche noch eine ordnungspolitische Umkehr in Sicht ist, sollte dem deutschen Steuerzahler offen gesagt werden, daß er noch für unabsehbare Zeit für den "Aufbau Ost" seinen Sonderobulus zu entrichten haben wird.

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator, zuletzt Redaktionsleiter des ZDF-Magazins, danach bis zu seiner Pensionierung 1993 Chef vom Dienst der Chefredaktion des ZDF.


 
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