© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Die Logik der Spaßgesellschaft
von Jens Jessen

Als die zweite Kammer des niederländischen Parlaments am 28. November 2000 das Gesetz zur aktiven Sterbehilfe durch Ärzte verabschiedet hatte, sprach die deutsche Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin von einem "schlimmen Tabubruch". Was wollte sie der Öffentlichkeit damit sagen? Wollte sie den Trend, Tabus zu brechen, der in den siebziger Jahren begann, stoppen? Befielen sie plötzlich religiöse Anwandlungen, die ihr verbieten, Themen anzusprechen, die viele Menschen bewegen? Droht der Gesellschaft in Deutschland eine Gefahr, die nicht zu vergleichen ist mit den Gefahren, welche die vielen Tabubrüche in den letzten dreißig provoziert haben? Oder handelt es sich nur um eine künstliche Erregung der Heuchler, die diese Gesellschaft in ihrer heutigen Ausformung geschaffen haben?

Nach Abschaffung des Kuppelei-Paragraphen, der Ermöglichung einer straffreien Abtreibung und der Einführung gleichgeschlechtlicher Ehen wird plötzlich der Eindruck erweckt, dem christlichen Abendland soll der Garaus gemacht werden durch Straffreiheit bei einer aktiven Sterbehilfe, die gesetzliche Vorgaben erfüllt. Es ist nicht ersichtlich, worauf sich eine Ministerin beruft, die einem Kabinett angehört, deren Mitglieder fast durchgehend den Eid auf die Verfassung mit den Worten "So wahr mir Gott helfe" verweigert haben. Es ist auch nicht nachzuvollziehen, worauf sich die Kirchen bei der Ablehnung der aktiven Sterbehilfe im Alter stützen, wenn sie der aktiven Tötung Ungeborener keinen ähnlichen Widerstand entgegensetzen.

Der ursprüngliche Tabubruch liegt im Bruch des hippokratischen Eides, der eine vielzitierte Selbstverpflichtung von Ärztinnen und Ärzten ist. Der griechische Arzt und Schriftsteller Hippokrates (ca. 460 bis 370 v.Chr.) formulierte diesen Eid, in dem es unter anderem heißt: "Ich werde niemandem, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren." Aus diesem Abschnitt wurde in dem Gelöbnis der Berufsordnung der Ärztekammer Berlin: "Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden."

Aus Konkretem wurde Beliebigkeit, die Ausdruck des Zeitgeistes ist. Aus religiösem Ursprung wurde menschliche Emanzipation. Wer den Menschen verabsolutiert und das Göttliche relativiert kann von einem Tabubruch nicht sprechen. Aus der Tatsache, daß der Mensch wider alle Ideologie nicht unendlich und unbegrenzt ist, folgt, daß ihm Grenzen in seinem Tun gesetzt werden. Allerdings dürfen diese Grenzen nicht aus der Hybris einer Gottähnlichkeit und dem Gebot, sich die Erde untertan zu machen, schöpfen. Dazu bedarf es wissenschaftlicher Selbstkontrolle und kritischer Reflexion des jeweils Machbaren auf die Folgen für Menschen und Natur.

Das gilt auch für den obersten Arzt in Deutschland, den Präsidenten der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe. Im Deutschen Ärzteblatt vom 8. Dezember 2000 erklärte er, aktive Sterbehilfe bleibe für die Ärzte in Deutschland ein Tabu. Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens könnten aber in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten unterlassen werden, wenn diese den Todeseintritt nur verzögerten und die Krankheit in ihrem Verlauf nicht mehr aufgehalten werden könne. Die Begründung für diese Aussage: die ethischen Prinzipien des Arztberufes widersprächen der aktiven Sterbehilfe. Wenn das so wäre, dürften auch seine niederländischen Kollegen Euthanasie nicht durchführen oder ein Ausschluß aus dem Weltärztebund müßte die Folge sein. Der aber, darauf läßt sich wetten, wird nicht kommen.

In der Zeitschrift Konkret berichtete Oliver Tolmein im Juni 2000 unter der Überschrift "Freiheit? Gleichheit?", daß schon seit Jahren die aktive "Euthanasie" in Holland toleriert wird. Jahr für Jahr seien 26.000 holländische Patienten oder rund zwanzig Prozent der Sterbefälle Opfer lebensverkürzender Maßnahmen durch die Ärzteschaft gewesen. "In etwa 1.000 Fällen wird nicht einmal mehr das (ohnehin fragwürdige) Einverständnis des Patienten eingeholt, fand eine Studiengruppe der Universität Rotterdam unter der Leitung von Prof. van der Maas bereits 1991 heraus; die Zahl dürfte aufgrund der extrem eng gehaltenen ’Euthanasie‘-Definition weitaus höher sein. Die holländische Wissenschaft versteht ’Euthanasie‘ als ein ’absichtlich lebenbeendendes Handeln‘ durch Dritte, und so schmolz die Zahl aller ’Euthanasie‘-Fälle in der Van-der-Maas-Studie schnell auf 2.300 zusammen."

Kein deutscher Politiker hat sich bis zum 28. November 2000 gegen das niederländische Verfahren gewandt, obwohl gerade die rot-grüne Regierung bekannt dafür ist, daß sie jedem und allen ihre Belehrungen erteilt, wenn es um Verletzungen der eigenen Ansichten über Moral und Ethik geht. Bis zum 28. November prüften in den Niederlanden Ausschüsse die Rechtmäßigkeit der Euthanasie-Fälle und gaben ihre Erkenntnisse routinemäßig an die Staatsanwaltschaft weiter. Dieses Verfahren ist mit dem Gesetz obsolet. Schon 1999 wurde (Deutsches Ärzteblatt, 10. November 2000) "bei 913 Fällen (meistens todkranke Babys oder Menschen im Koma) ohne ausdrücklichen Wunsch der Patienten aktive Euthanasie geleistet. Die liberalen niederländischen Parteien sprechen sich sogar dafür aus, daß auch Demenz als Grund für aktive Sterbehilfe gelten soll." Deshalb ist es auch verständlich, daß der niederländische Arzt Philip Sutorius – hippokratischer Eid hin, hippokratischer Eid her – am 22. April 1998 in Harleem dem 86jährigen Ex-Senator Edward Brongersma aktive Sterbehilfe leistete, weil dieser die Lust am Leben verloren hatte. Ihm fehle es an "Qualität im Leben" und am "Sinn des Lebens". Der Staatsanwalt in Harleem forderte für den Arzt drei Monate auf Bewährung. Das Gericht sprach den Arzt Anfang November 2000 frei.

Die Entwicklung in den Niederlanden verleiht der liberalen Überzeugung Ausdruck, daß es das Recht des Menschen ist, sein Leben nach eigener Entscheidung zu führen und zu beenden. Die aktive Sterbehilfe ist damit nichts anderes mehr als ein Spezialfall des Selbstmordes. Der beklagte Tabubruch ist keiner, da die Tabus eine Leitethik voraussetzen, die es in dieser Gesellschaft des Hedonismus nicht gibt. Daran ändert auch die Bemerkung von Robert Leicht in der Zeit vom 30. November 2000 nichts: "Aber eine gesetzliche Regelung, in der diese letzte Grenzsituation wie in einer Durchführungsverordnung geregelt und die aktive Sterbehilfe programmatisch erlaubt wird – einer solchen Regelung traue ich nicht über den Weg." Daraus spricht nur die Furcht vor einer Fremdbestimmung durch staatliche Regelungen. Selbstbestimmung wäre die freie Verfügbarkeit durch den Erwerb von Tötungspillen im Supermarkt. Die Säkularisierung ist in den Niederlanden so weit fortgeschritten wie in Mitteldeutschland, der Tschechei, Ungarn etc. Die westdeutsche Gesellschaft hat sich gebetsmühlenhaft vorgetragene Bekenntnisse reserviert, die sich als Phrasen entpuppen, wenn sie eingehalten und befolgt werden sollen.

Diese Entwicklung ist also keine spezifisch niederländische, sondern eine europäische, bei der die Niederlande nur die Führungsrolle als Putztruppe für eine neue Ordnung übernommen haben. So dient das Euthanasiegesetz in den Niederlanden der Beseitigung rudimentär vorhandener "Tabus", die eine Fortentwicklung aller anderen liberalen "Errungenschaften" ermöglicht. Der Deutschlandkorrespondent der Wochenzeitung Elsevier, Willem Wansink, hat deshalb deutlich gemacht, daß die Niederländer mit Kirchen und überalterten Glaubensdogmen "wenig am Hut" haben. Er sieht die Zustimmung zur Sterbehilfe in der kalvinistischen und liberalen Tradition seines Landes begründet.

Aber auch in Deutschland wird es nicht mehr lange dauern, bis dieser Schritt nachvollzogen wird. Anton Leist, der in Frankfurt seine Karriere begann und heute praktische Philosophie in Zürich lehrt, hat dafür schon die Vorlage gegeben. In seinem 1999 erschienenen Heft "Das Dilemma der aktiven Euthanasie" in der medizinethischen Reihe des "Humanistischen Verbands Deutschlands" leitet er – in alter liberaler Tradition – mit dem Argument der Selbstverfügung des Menschen über sich und sein Leben das Recht auf Selbsttötung ab und daraus das negative Recht, sich töten zu lassen. Die ethische Operationalisierung ist leicht bewerkstelligt, da er dem Autonomieprinzip das Fürsorgeprinzip unterstellt: "Ist der Patient im Verlauf seiner Krankheit zu Autonomie nicht mehr in der Lage, so aktualisiert sich die Fürsorge unter dem stellvertretenden Urteil darüber, was für ihn gut ist." Daraus folgt, daß dann auch behinderte Neugeborene und andere Menschen unter das Fürsorgeprinzip fallen. Anton Leist: "Nur in Form einer extrem metaphorischen Interpretation des ’Stellvertreters‘ des Patienten könnte man deshalb unfreiwillige Euthanasie begründet sehen." Und er folgert weiter, daß das medizinische Bemühen um Schwerkranke oder Schwerbehinderte ein verantwortungsloser Terror der geldgierigen Ärzte ist.

Die Argumente gegen die niederländische Sicht der Dinge treffen den Kern der Problematik, aber nicht die angesprochene Gesellschaft, da diese Argumente nicht mehr gesellschaftsfähig sind. Die Umfrageergebnisse in den Niederlanden zeigen das ebenso deutlich wie die Umfragen in Deutschland: 82 Prozent der Niederlände begrüßen das Euthanasiegesetz. Von den Wählern des "Christlich Demokratischen Appells" (CDA) sind es immerhin 59 Prozent. Wenn man Umfragen in Deutschland Glauben schenken kann, wünschen 68 Prozent Bevölkerung die Legalisierung der Sterbehilfe.

Die nächsten Schritte sind vorprogrammiert. Das "Gesetz zur Überprüfung von Lebensbeendigung auf Verlangen des Patienten und Hilfe bei Selbsttötung" war nur sieben Tage alt, da hat die niederländische Gesundheitsministerin Els Borst mit ihrem Eintreten für eine "Selbsttötungspille" versucht, Pflöcke einzuschlagen. Der registrierte Aufschrei in den Niederlanden gegen das ministerielle Vordenken galt nicht der Todespille, sondern dem falsch gewählten Zeitpunkt der Äußerungen von Els Borst in einem Gespräch mit dem NRC Handelsblatt. Darin nahm sie den Leitfaden des libertären Gesellschaftsmodells auf: wenn Menschen des Lebens müde, aber nicht unbedingt krank sind, könne die Selbsttötungspille nicht abgelehnt werden. Den niederländischen Premier Wim Kok aber nervte die Diskussion über die verbalen Ausrutscher seiner Gesundheitsministerin so sehr, daß er sie zurückpfiff. Wie immer, so die Süddeutsche Zeitung vom 21. April 2001, "wenn der Regierungschef ärgerlich wird, zieht er sich aufs Formelle zurück, nennt Phrasen wie ’Respekt‘, ’Vertrauen‘ oder ’Demokratie‘". Er hat die Todespille von der Tagesordnung genommen. In absehbarer Zeit wird sie jedoch wieder ein Thema sein.

Aber mit den Tabubrüchen wird es weitergehen. Däubler-Gmelin und Genossinen und Genossen werden sich daran gewöhnen müssen, daß die von ihnen eingeleitete Entwicklung nicht mehr zu bremsen ist und immer neue Bereiche betroffen werden. Die Etappen werden kürzer. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) und das therapeutische Klonen bieten sich als Instrumentalisierung des menschlichen Lebens an. In einem großen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen vom 23. April 2001 erhebt Eberhard Schockenhoff, Inhaber des Lehrstuhls für katholische Moraltheologie an der Universität Freiburg, einen "Einspruch im Namen der Menschenwürde". Gerade die Präimplantationsdiagnostik verspricht den Menschen erhebliche Erleichterungen, die sie für sich nutzen wollen. Schockenhoff zeigt anhand der Reproduktionsmedizin, wie schnell legitime Ziele mit illegitimen Mitteln erreicht werden. Die In-vitro-Fertilisation, d.h. die künstliche Befruchtung von Eizellen im Reagenzglas, halten Ethikkommissionen für unbedenklich. Die dabei erzeugten nicht benötigten Embryonen werden in Kauf genommen. Da hilft auch kein Embryonengesetz. So weit, so schlecht.

Auf der nächsten Stufe aber wird kein ethischer Unterschied gemacht zwischen absterbenden Embryonen und "verbrauchender Forschung im Humanexperiment oder ihrer Nutzung, um embryonale Stammzellinien zu gewinnen". Und – so wird argumentiert – damit haben die überzähligen und eigentlich nutzlosen Embryonen doch noch einen Nutzen für die Menschheit. Die PID ist dann natürlich auch ethisch vertretbar. Bei ihr wird untersucht, ob künstlich erzeugte Embryonen genetisch geschädigt sind, bevor sie in die Gebärmutter eingesetzt werden. Das ethisch legitime Ziel, Erbkrankheiten möglichst zu vermeiden und dadurch die Schwangere in der Schwangerschaft emotional zu entlasten, wird jedoch mit dem Einsatz von Mitteln erreicht, die sich – so Schockenhoff – ethisch nicht rechtfertigen lassen. "Menschliches Leben wird bei diesem Verfahren zunächst hergestellt, um es anschließend testen und selektieren zu können."

Genausowenig ist zu bestreiten, daß die Zielsetzung des therapeutischen Klonens, unheilbare Krankheiten zu therapieren, berechtigt ist. Aber auch hier wird menschliches Leben instrumentalisiert. Die Diskussionen werden sich im Laufe der Zeit verschärfen, das ist sicher. Die Logik der hedonistischen Gesellschaft wird sich von einer "Ethik der Menschenwürde" nicht daran hindern lassen, Schmerz, Krankheit und Angst zu tilgen und alle Menschen glücklich zu machen.

 

Dr. Jens Jessen ist Volkswirt. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Genforschung und Datenschutz (JF 9/01).


 
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