© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Reportage: Rund um den Brocken feiert man Walpurgis
Harzer Hexen-Hokuspokus
Günter Schenk

Sie lauern zwischen Zweigen, kauern auf Dächern. Andere klammern sich an Kamine, Läden und Laternen. Hunderte von Hexen hausen zu Walpurgis im Harz, gehörnte Teufel und Geister, ausgestopfte Kobolde, Lumpen- und Strohgestalten. Ein wildes Heer, das jährlich Ende April um den Brocken tobt. Mehr als 150.000 Gäste bedeutet das für die Region, ausgebuchte Hotels und lange Staus auf den Zufahrtsstraßen. Festzentren sind Bad Grund, Schierke und Hahnenklee, wo die Menschen die Ankunft des Frühlings und das Ende des Winters besonders ausgiebig feiern.

Vor dem "Walpurgishof", einem der vielen Hotels vor den Toren Goslars, parken Busse. Aus allen Teilen Deutschlands sind sie nach Hahnenklee gekommen, von Schleswig-Holstein bis Bayern. Das Zentrum versperren fliegende Händler. Spanferkel und Roggenbrötchen halten sie feil, Krautsalat und Schmalzgebackenes, Sauerkraut mit Krakauer – und natürlich Harzer Käse. "Es läuft gut", freut sich die Dame vom Fremdenverkehrsamt, "alle Zimmer sind belegt".

Genauer betrachtet hat die gute Fee mit der bösen Hexe freilich gar nichts zu tun, agierten früher beide gar auf getrennten Bühnen. Hexen und Teufel in der Walpurgisnacht, die Maikönigin am Tag der Arbeit, den die Nationalsozialisten einst mit großem Aufwand organisierten. "In den dreißiger Jahren", will die diplomierte Sozialwissenschaftlerin Sylvie Tomann herausgefunden haben, "waren die Feiern am ersten Mai gewichtiger als der mitternächtliche Feuerzauber". Tomann, die über den "Hexenkult im Harz" ihre Diplomarbeit schrieb und dafür viele Hundert Zeitungsbände wälzte, enttarnte die Harzer Maienkönigin als nationalsozialistische Erfindung des Jahres 1934. Damals hätten die Brauchtumspfleger der Partei die "Siegerin im Reichsberufswettkampf" zur Maienkönigin gekürt. Heute freilich ist die Maienkönigin längst kein fleißiges Mädchen mehr, eher schon eine Schönheitskönigin im Gewand des Christkindes. Eine Lichtgestalt in der Nacht der Nächte, die im Volksglauben die Hexen mit dem Teufel zusammenbrachte.

Die mittelalterliche Hexe war eine Einzelgängerin. Eine archaische Figur, für die im christlichen Rahmen kein Platz war. Ein Störenfried der Glaubensordnung, der Fruchtbarkeitskulten und Winteraustreibungsritualen näherstand als den Lehren des Evangeliums. Eine Zauberin, die über besonderes Wissen verfügte, über geheime Kräfte, mit denen sie anderen schaden konnte. Erst mit der Wende zur Neuzeit reifte bei den Theologen die Idee vom Hexenbund, der den Gottesstaat bedrohte. So wurde der Teufel zum Hexenmeister: zum Anführer eines wilden Heeres, das die Fantasie des Volkes immer mehr beseelte. Ende des 15. Jahrhunderts schrieben zwei Theologen im "Hexenhammer" schließlich die Praktiken der Hexen und Teufel erstmals detailliert fest – einem Bestseller, der die Rechtsgrundlage für zahllose Hexenprozesse lieferte, für Leid und Verfolgung vieler zehntausend Frauen. Dem Teufel, war im "Hexenhammer" nachzulesen, verdanken die Hexen ihre Macht, vor allem ihre Fähigkeit, anderen Schaden zuzufügen und durch die Lüfte zu reiten. Die Kraft dazu nahmen sie aus der sexuellen Vereinigung mit dem Höllenfürsten. Zum Ort des Hexensabbats, wo Teufel und Hexen im orgiastischen Rausch zusammenfanden, wurde der Blocksberg bestimmt, der Brocken, das Harzer Wahrzeichen. Schon ein Beichtbuch aus dem 15. Jahrhundert sprach von Zauberinnen, die "uf den Brockisberg varen". Im Volksglauben wurde der Brocken so zum Zauberberg, den die Hexen zu Walpurgis mit Hilfe einer eigens gebrauten Flugsalbe ansteuerten. Schließlich geriet der Hexensabbat zum Szenarium romantischer Frühlingsfeiern. "Am ersten Mai", schrieb Jakob Grimm in seiner "Deutschen Mythologie" über die Hexen, "ziehen sie auf den Blocksberg und müssen in den folgenden zwölf Tagen den Schnee forttanzen, dann beginnt der Frühling". Die größte Popularität aber verschaffte Johann Wolfgang Goethe dem Treiben auf dem Blocksberg. Im Dezember 1777 hatte der Dichter selbst den Brocken erstiegen. Ein winterlicher Gewaltmarsch, den er auf Kohlezeichnungen festhielt und im "Faust" literarisch verarbeitete. "Harzgebirge. Gegend von Schierke und Elend", hatte er seine "Walpurgisnacht-Szene" überschrieben, die den Titelhelden mit Mephisto auf den Blocksberg führte. "Bedenkt", hatte ein Irrlicht den beiden auf den Weg zum Gipfel gegeben, "der Berg ist heute zaubertoll". Im "Chor der Hexen" legte Goethe schließlich das nächtliche Szenario fest. "Die Hexen zu dem Brocken ziehn, die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün. Dort sammelt sich der große Hauf, Herr Urian sitzt oben auf. So geht es über Stein und Stock, es farzt die Hexe, es stinkt der Bock."

"Da sehe ich junge Hexchen", hatte Mephisto den Faust einst auf den Walpurgisabend neugierig gemacht, "und alte, die sich klug verhüllen. Ein Hundert Feuer brennen in der Reihe. Man tanzt, man schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt. Nun sage mir, wo es was Bessers gibt?"

1898 wurde die Brocken-Bahn fertig, der Weg zum 1142 Meter hohen Gipfel leichter. Beste Voraussetzung für weitere Walpurgis-Abende. Im gleichen Jahr öffnete auch Schierkes erstes Hotel, mit Telefon und elektrischem Licht in allen hundert Zimmern. Heute ist Schierke die wichtigste Touristen-Station im Osten des Harzes. Weitgehend verheilt sind die Wunden jahrzehntelanger sozialistischer Mißwirtschaft. Längst ist das Städtchen kanalisiert, gibt es Gas und Wasser in jedem Haus. Auch der Gipfel des Brockens, von sowjetischen Soldaten fast dreißig Jahre okkupiert, steht jetzt jedem wieder offen.

Schierkes Erfolgsrezept kopierten schließlich auch andere Harz-Orte. 1925 gründete sich in Hahnenklee eine weitere "Walpurgisgemeinde", eine Gesellschaft zur Organisation des Festes, die zunächst ebenfalls in Goethes Geiste agierte. Denn in der benachbarten Grube Rammelsberg, die heute als Besucherbergwerk zum Weltkulturerbe zählt, hatte sich der Dichter zu seinen Walpurgisnacht-Szenen inspirieren lassen. "Schwarze Höhle, erleuchteter Kamin, Flammen, Geprassel, Rauch, Zug, Glut, Funcken sprühen, Knall. Dumpfes Getöse der springenden Felsen. Zusammenstürzende Flammen. Getös. Hitze. Vitriolzapfen", hatte er nach Besuch des Bergwerks notiert, das einst zu den wichtigsten Silberlieferanten zählte.

Auch in Hahnenklee war es anfangs eine von Männern dominierte Runde, die zu Walpurgis nächtens auf den Putz haute. Heute sind Maienkönigin, Teufel und Oberhexe schon mittags beim Kinderumzug unterwegs. Als Anführer einer Hundertschaft lärmender Buben und Mädchen, die beim Tanz um ein großes Feuer den Winter vertreiben, der sich langsam in Rauch auflöst. Abends sind die Erwachsenen gefordert, die sich bis dahin mit Krombacher und Köstritzer die Zeit vertreiben, mit hellem Bier aus dem Westen und dunklem aus dem Osten.

Beim Bier im Harz treffen heute Welten aufeinander, die über Jahrzehnte getrennt waren. So war den Menschen in Thüringen und Sachsen-Anhalt bis zur Wiedervereinigung der Weg in den Westen versperrt. Umgekehrt hatten die Niedersachsen Probleme, den Brocken zu besuchen, die Wiege aller Walpurgisfeiern. Heute existiert kein Hindernis mehr, buhlen die Harz-Gemeinden in West und Ost um Gäste, offerieren ständig neue Angebote. Für die Feiernden gibt es Hexenbraten und Satansbrot, teuflische Biere und anderen Höllentrank. Der von Goethe popularisierte Mythos um den Brocken scheint sich immer besser auszuzahlen.


 
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