© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Arbeitsgesellschaft
Karl Heinzen

Die Umstände, unter denen die Menschen arbeiten müssen, werden schlechter und schlechter, behauptet jedenfalls Raymond-Pierre Bodin, Direktor der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der EU. Eine zum dritten Mal nach 1991 und 1995 durchgeführte Umfrage unter Erwerbstätigen weise zwar aus, daß die Arbeitszeit verkürzt worden sei, dafür habe jedoch die Arbeitsdichte spürbar zugenommen. 60 Prozent der Befragten geben an, unter Zeitdruck zu arbeiten, weil dies die Marktzwänge erforderten. 1990 waren es noch 50 Prozent gewesen. Erkennbar gewachsen sind auch die physischen Strapazen: 29 Prozent der Beschäftigten klagen über Lärm am Arbeitsplatz (1990: 27 Prozent), 47 Prozent haben ihre Arbeit in belastender Körperhaltung zu verrichten (1990: 43 Prozent), 37 Prozent müssen schwere Lasten heben (1990: 31 Prozent).

Überraschen können diese Zahlen nicht. Die unbestreitbare Modernisierung zielt schließlich keineswegs auf eine zunehmende Entlastung der Menschen, sondern auf die Realisierung von Gewinnen, die die Wahl eines europäischen Standortes nicht als Fehlentscheidung erscheinen lassen. Das Wohlwollen der Kapitaleigner kann nur durch das sachliche Argument der Leistung gewonnen werden: Dies ist im großen Maßstab nicht anders als im kleinen. Es bleibt daher das Geheimnis von Raymond-Pierre Bodin, warum die Ergebnisse seiner Studie irgendwelche Alarmglocken erklingen lassen sollen, bringen sie doch vielmehr eine Leidensfähigkeit der in das Erwerbsleben involvierten Menschen zum Ausdruck, auf die schon niemand mehr so recht hoffen wollte. Die Priorität, die dem Beruf vor familiären und anderen Ablenkungen gegeben wird, erlaubt die Durchsetzung immer flexiblerer Arbeitszeiten. Die Beschäftigten bedürfen zusehends weniger einer unmittelbaren Aufsicht. Ihre Furcht, den an sie gerichteten Erwartungen nicht gerecht zu werden, ist ihnen Motivation genug.

Nebenbei wird ein Verzicht auf die Illusion, sich durch Leistung emporarbeiten zu können, möglich. Sie widerspräche schließlich auch der Alltagserfahrung: Wer zu Reichtum gekommen ist, hat diesen in der Regel nicht verdient. Diese Einsicht übt, sofern man nur in der Lage ist, Neidgefühle zu unterdrücken, eine ungemein beruhigende Wirkung aus: Es liegt nicht nur an einem selbst, daß man es zu nichts gebracht hat. Für Unmut gibt es jedenfalls keinen Anlaß. Auch wenn sich dies vielleicht nicht im pekuniären Einkommen niederschlägt, so leistet doch jeder, der arbeitet, einen Beitrag zum Wohlstand unserer Gesellschaft. Wem dieser dann in welcher Intensität zugute kommt, steht nicht zur Diskussion, wenn man nicht Gefahr laufen will, den Wohlhabenden den Anreiz zu nehmen, andere für sich arbeiten zu lassen. Niemand sollte sich enttäuscht zeigen, daß der Kapitalismus seinen eigenen und nicht anderen Bewegungsgesetzen folgt. Es war schließlich nicht er, der den Menschen Gerechtigkeit versprochen hat.


 
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