© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Marxismus für Anfänger
Parteien: Die PDS will ihr Programm zwar vordergründig radikal umschreiben, strebt aber weiterhin eine sozialistische Gesellschaftsordnung an
Klaus Motschmann

Zwei Erklärungen der PDS in der letzten Woche haben für beachtliche Irritationen in unserer Mediokratie gesorgt: Zum einen die Entschuldigung der PDS wegen der gewaltsamen Zwangsvereinigung von KPD und SPD im Jahre 1946; zum anderen der Entwurf für ein neues Parteiprogramm, in dem die PDS das "Unternehmertum und betriebswirtschaftliche Gewinninteressen als wichtige Voraussetzungen für Effizienz und Innovation unseres Wirtschaftssystems" anerkennt. Es ist die Rede von einem "zweiten Godesberg" – in Anspielung auf das Godesberger Programm der SPD von 1959 –, von einem radikalen Kurswechsel, von einer Anpassung an die Realitäten unserer Gesellschaft usw. Davon kann nur sehr bedingt, in einem taktischen Sinne die Rede sein. Das Ziel der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung wird nicht in Frage gestellt.

Man fragt sich immer wieder und neuerdings immer häufiger, warum es noch immer bzw. schon wieder so schwierig ist, die Grundzüge sozialistischer Politik zu erfassen und unserem Volke zu vermitteln. Handelt es sich um politische Naivität und Vertrauensseligkeit? Um intellektuelles Unvermögen? Oder um bewußte Täuschung der Öffentlichkeit? Auf jeden Fall dürfen sich die Sozialisten einer wie auch immer motivierten Unterstützung ihrer politischen Absichten sicher sein, trotz aller Erfahruungen in Geschichte und Gegenwart. Bereits Karl Marx und Friedrich Engels haben zahlreiche ihrer vermeintlichen Parteigänger sowie ganze "Cliquen vorlauter Literaten und unwissender Lümmel" mit Hohn, Spott und Verachtung überzogen, weil sie "durch grobe Unbekanntschaft mit den jedesmal entscheidenden historischen Tatsachen" unfähig waren, das Entscheidende des Sozialismus zu begreifen: daß er nicht diesem oder jenem genialen Kopf, diesem oder jenem Parteiprogramm, dieser oder jener revolutionären Aktion entspringt, sondern das notwendige Ergebnis eines gesetzesmäßigen Verlaufs der Geschichte ist, die nach marxistischer Überzeugung immer als "Geschichte von Klassenkämpfen" verstanden werden muß.

In diesem Prozeß haben die Unternehmer, die Kapitalisten, eine höchst progressive Rolle gespielt, die Marx und Engels im Sinne ihres Geschichtsverständnisses an hervorragender Stelle ausdrücklich gewürdigt haben, so zum Beispiel im "Kommunistischen Manifest" (1848): "Die Bourgeosie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Eisenbahn, elektrische Telegraphen ...".

Diese Entwicklung war freilich nur möglich, weil sie alle bis dahin bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse radikal umgewälzt und damit einen Prozeß dauernder Umwälzung eingeleitet hatte: "Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgoisepoche aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst; alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht. (...)

Die Bourgoisie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird. (...) Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaten bildet sich eine Weltliteratur."

Auf diese Weise werden die notwendigen Voraussetzungen für die Überwindung der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie geschaffen – insbesondere durch:

- ständige Konzentration der Produktionsmittel in den Händen weniger;

- die damit verbundene Enteignung kleinerer und mittlerer Betriebe ("Je zwei Kapitalisten schlagen einen dritten tot");

- die Selbstentfremdung und Entwurzelung der breiten Volksmassen;

- die Beseitigung aller Formen und Normen der bürgerlichen Gesellschaft.

Die sozialistische Gesellschaft wächst also im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam von selber heran; den Sozialisten kommt lediglich die – allerdings sehr wichtige – Rolle eines "Geburtshelfers" zu.

Dieser Prozeß wird, um es nochmals zu erwähnen, in erster Linie durch das Unternehmertum mit seinem Streben nach Gewinn vorangetrieben, offenkundig ohne das zu bedenken, was Friedrich Engels 1847 dazu bemerkt hat: "Wir können uns eines ironischen Lächelns nicht erwehren, wenn wir sehen, mit welchem schrecklichen Ernst, mit welcher pathetischen Begeisterung fast überall die Bourgeois ihren Zweck nachstreben. Sie sind beschränkt genug, zu glauben, daß mit ihrem Siege die Welt definitive Gestalt bekomme. Und doch ist nichts augenscheinlicher, als daß sie nur uns, den Demokraten und Sozialisten, überall den Weg bahnen, als daß sie höchstens einige Jahre unruhigen Genusses erobern, um alsdann sofort wieder gesürzt zu werden. (...)

Wir haben euch vorderhand nötig, wir haben sogar hie und da eure Herrschaft nötig. Ihr müßt uns die Reste des Mittelalters und die absolute Herrschaft aus dem Wege schaffen, ihr müßt den Patriarchalismus vernichten, ihr müßt zentralisieren, ihr müßt alle mehr oder weniger besitzlosen Klassen in wirkliche Proletarier, in Rekruten für uns verwandeln, ihr müßt uns durch eure Fabriken und Handelsverbindungen die Grundlagen der materiellen Mittel liefern, deren das Proletariat zu seiner Befreiung bedarf. Zum Lohn dafür sollt ihr eine kurze Zeit herrschen. Ihr solltet Gesetze diktieren, ihr solltet euch sonnen im Glanze der von euch geschaffenen Majestät (...). Aber vergeßt nicht: ’Der Henker steht vor der Tür.‘"

In diesem Sinne der Wegbereitung für eine sozialistische Gesellschaft haben die Sozialisten überhaupt keine Probleme der Anerkennung des (vorübergehenden) Privateigentums an Produktionsmitteln. Als ein Beispiel für zahlreiche andere sei an das neue Parteiprogramm der KPD nach dem Kriege vom 11. Juni 1945 erinnert, in dem es ebenfalls wie in dem jetzigen Programmentwurf hieß: "Völlige ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums."

Welche Veranlassung sollten die Verfechter des neuen Parteiprogramms der PDS haben, auf diese in Theorie und Praxis bewährten Grundsätze bei der Verfolgung ihres Zieles der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in Europa und Deutschland zu verzichten?

Sahra Wagenknecht: Die Galionsfigur der Kommunistischen Plattform in der PDS lehnt einen weiteren Kurswechsel ihrer Partei ab.


 
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