© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Kolumne
Finstere Zeiten
Hans-Helmuth Knütter

Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten. Wer die deutsche und die internationale Politik auf sich wirken läßt und nicht so indolent ist wie wohl die Mehrheit der Bevölkerung, sondern sensibel die bedrohlichen Zeichen an der Wand registriert, muß zu diesem Ergebnis kommen.

Wirklich? Muß es nicht vielmehr heißen, wir leben in verrückten Zeiten? Verrückt ? Das meint: Alles ist aus den Fugen, alles ist möglich, aber das Gegenteil auch. Die Welt ist voller Widersprüche, und alles scheint beliebig. Kein Maß, keine Mitte, keine Führung, keine Vision. Aber Vorsicht! Ist jemand, der so redet, nicht einer jener lächerlichen Kulturpessimisten, die, auf bequemem Sessel sitzend, laut, aber folgenlos die schlimmen Zeiten bejammern?

Wir leben in einer Inkubationszeit. Das Ende aller Tage, der Weltuntergang oder der des Abendlandes oder wenigstens der Deutschlands, ist noch nicht gekommen. Aber alte Werte und Strukturen zerfallen und verlieren an richtungweisender Kraft. Neues dämmert herauf, aber seine Konturen sind noch nicht erkennbar.

Allerdings sind die Befürchtungen, das Neue könne bedrohlich oder sogar blutig werden, sehr berechtigt. An die Erlösung durch die Politik glaubt niemand mehr, seit die Verheißungen der klassenlosen Gesellschaft oder der nationalen Volksgemeinschaft so blutig und kläglich pleite gemacht haben.

Und wie steht es mit jenen, die sich als Retter anbieten? Nennen wir handfeste Beispiele. Die Grünen sind 1980 als ökologische, soziale und gewaltfreie Partei angetreten. Gelandet sind sie als ein Verein, der pazifistisch redet, aber kriegerisch handelt. Von wegen gewaltfrei! In Wirklichkeit frei zur Gewalt. Kein Wunder, daß die Wähler desorientiert sind und in Massen zu Hause, in der Nische bleiben. Angesichts solcher Alternativen stagniert alles, aber auf hohem Niveau.

Im Augenblick lebt es sich doch ganz gut. Gewiß, hier und da herrscht Untergangsstimmung, vor allem bei Intellektuellen. Aber welch wundervoller, behaglicher Untergang ist das doch! Verweile doch, du bist so schön, möchten viele zum Augenblick sagen. Jede Änderung kann nur Schlimmeres bewirken. Behagen und Unbehagen – beides ist eng miteinander verbunden. Wirklich, wir leben in verrückten Zeiten.

 

Prof. Dr. Hans-Helmuth Knütter lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bonn.


 
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