© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Die "Heimkehr" der Ukraine
Ukraine: Die Regierungskrise im zweitgrößten Land Europas beruht auch auf der Ignoranz des Westens
Ivan Denes

In der Ukraine bahnt sich eine Konfrontation an, die die geostrategische Lage Osteuropas grundsätzlich ändern könnte. Mit 263 Stimmen gegen 69 von insgesamt 450 hat die Werchowna Rada, das Parlament, Ministerpräsident Wiktor Juschenko abgewählt.

Der Reformpolitiker Juschenko, ehemaliger Präsident der Zentralbank, hat in seiner relativ kurzen Amtszeit (16 Monate) erhebliche Erfolge verbuchen können. Zum ersten Mal seit dem Erlangen der Unabhängigkeit ist ein Wachstum des BSP verzeichnet worden, und zwar von sechs Prozent. Juschenko hat die Privatisierung vorangetrieben, die Korruption aktiv bekämpft, die Währung stabilisiert, kurzum: ein Erfolgspolitiker, den Experten oft mit dem Vater der polnischen Reform, Leszek Balczerowicz, vergleichen. Der zur Zeit mit Abstand beliebteste Politiker des Landes hat größte Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr in das höchste Amt gewählt zu werden. Das mag vordergründig der Grund sein, daß der angeschlagene Staatspräsident Leonid Kutschma seinen Ministerpräsidenten in der Öffentlichkeit nur halbherzig unterstützte. Schließlich hat sich Kutschma hinter den Kulissen mit den Kommunisten und mit den drei kleinen Parteien der "Oligarchen" zusammengetan, denen Juschenkos Privatisierungswelle, besonders aber die militante Bekämpfung der Korruption und der Bereicherung auf Kosten der Gemeinschaft, bedrohlich wurde.

Nach seiner Abwahl erklärte Juschenko, er werde sich nicht aus der Politik zurückziehen. Die von Kutschma geschaßte ehemalige stellvertretende Ministerpräsidentin Julia Timoschenko bot ihm sofort eine politische Heimat in ihrer eigenen Partei an. Sie wurde ihrerseits und von der Staatsanwaltschaft verfolgt, weil sie die Privatisierung der ukrainischen Energiewirtschaft – unter der Leitung von Juschenko – vorangetrieben hatte.

Die US-Regierung und die EU haben öffentlich ihr Bedauern über die Abwahl Juschenkos zum Ausdruck gebracht. Juschenko ist mit einer Amerikanerin verheiratet, die seine Gegner wiederholt beschuldigten, sie sei CIA-Agentin.

Die Ukraine windet sich seit Monaten in einer schweren Krise, die von dem sogenannten Tonbandskandal ausgelöst wurde. Ein Leibwächter Kutschmas ließ in seinem Amtszimmer ein Tonbandgerät 300 Stunden lang laufen. Neben kompromittierend vulgären verbalen Ausbrüchen belastet den Präsidenten eine ganz spezielle Aussage: Er habe Anweisungen gegeben, den oppositionellen Journalisten Georgi Gongadse, der wiederholt Korruptionsaffären der Oligarchen und der Präsidialverwaltung recherchiert hatte, zu beseitigen. Kutschma bestreitet nicht die Echtheit der Tonbänder, behauptet jedoch, die betreffende Passage sei manipuliert worden. Die Demonstrationen, auf denen sein Rücktritt gefordert wird, dauern seit Monaten an. Der Leibwächter und die Journalistenwitwe erhielten inzwischen politisches Asyl in den Vereinigten Staaten.

Kutschma hat zur Zeit keine Wahl. Er kann nicht zurücktreten, weil er folgerichtig wegen Anstiftung zum Mord vor Gericht gestellt werden müßte. Daher muß er sich mit jenen Kräften verbünden, die sein politisches Überleben garantieren können. Er kann sein politisches Schiff nur in einen Hafen sicher andocken: Rußland. Die Kräfte, die für eine unabhängige Ukraine stehen, sind gleichzeitig die – prowestlichen – Reformkräfte um Wiktor Juschenko und Julia Timoschenko. Ein offener Zusammenprall ist also vorprogrammiert.

Parallel zur Affäre mit den Kutschma-Tonbändern liefen die Wahlen im benachbarten Moldavien (die JUNGE FREIHEIT berichtete). Unter den Wahlversprechen des KP-Chefs und neuen StaatspräsidentenWiktor Woronin: das Beenden der Sezession Transnistriens und der Beitritt Moldaviens zur russisch-belarussischen Union. Das wiederum eröffnet Rußland die Aussicht auf eine dauerhafte Militärpräsenz im Südwesten der Ukraine.

Mit der Wahl Woronins ist der erste, wichtigste Schritt vollzogen. Smirnow, der Präsident Transnistriens, ist ein ehemaliger OMON-Offizier, der sich zum Gangster gewandelt hat, trotzdem weiterhin moskauhörig ist. Kutschma ist in eine geostrategischen Zange genommen worden. Tag für Tag wird deutlicher: Hier wird sehr weit ausgeholt, nicht um Transnistrien oder Moldavien "beizuführen". Das Ziel ist die im Augenblick völlig destabilisierte Ukraine.

Der Kreml-Beauftragte für die Lösung des Transnistrien/Moldavien-Konfliktes heißt Ewgenij Primakow – mit Abstand der qualifizierteste Geheimdienstchef der Zeitgeschichte. Primakow wurde vor wenigen Tagen mit der Gortschakow-Medaille ausgezeichnet für besondere Leistungen im Bereich der Außenpolitik. Vor ihm bekamen nur zwei andere Politiker die Medaille – Boris Jeltsin und Wladimir Putin.

Für den Wahlsieg Woronins oder für die bevorstehende Beendung der Sezession Transnistriens hätte ihm das Vaterland kaum die höchste Auszeichnung gewährt. Wenn Spekulationen erlaubt sind – könnte es nicht sein, daß er sich die Medaille mit den Tonbändern unter dem Sofa im Büro des Leonid Kutschma verdient hat ...?


 
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