© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Der Tag, als Conny W. starb
Theater: Lutz Hübners "Ausnahmezustand" in Göttingen
Christian Vollradt

Wenn ein Autor vorab eingestehen muß, daß der Stoff, den zu dramatisieren er beauftragt wurde, eigentlich kein Thema bietet, so hat er ein Problem – oder eine Bühne, die als "Studio" bezeichnet wird und ihn daher von der Fertigstellung des Stücks entbindet. Letzterer Glücksfall bot sich Lutz Hübner für seinen "Ausnahmezustand", der in einer Inszenierung von Heiko Senst am vergangenen Samstag im Göttinger Deutschen Theater uraufgeführt wurde. Bereits im voraus haben Hübner und Senst betont, daß dieses Stück "keine geschlossene Form" vertrage, daß "Risse und Löcher" wichtig seien, daß man Angst vor der Perfektion habe, "weil das so was Deutsches ist".

Was ist nun aber das Thema, oder eben das Nicht-Thema von "Ausnahmezustand"? Göttingen am Abend des 17. November 1989: Polizisten verfolgten eine Gruppe Autonomer, die sich zuvor eine Schlägerei mit Skinheads geliefert hatte. Bei dem Versuch, sich der Polizeikontrolle zu entziehen, lief die Studentin Conny Wessmann auf eine mehrspurige Straße, wurde von einem Auto erfaßt und tödlich verletzt. Der Unfall wurde zum Fanal: Die Parole "Conny von den Bullen in den Tod gejagt!" gellte durch Stadt und Land. Es folgten Demonstrationen und Krawalle, der "Schwarze Block" wurde zum gefürchteten und geflügelten Begriff, die Göttinger Innenstadt verbarrikadiert. Ausnahmezustand eben, wobei politisch genauer von Belagerungszustand zu sprechen wäre.

Spätestens seit die Nationalsozialisten- Bataillone ihren Horst W. zum Märtyrer erkoren haben, wissen wir um die Anziehungskraft "gefallener" Studenten für revolutionäre Bewegungen und solche, die es werden wollen. So erhob man die Getötete – fortan enigmatisch "Conny W." genannt – zur Ikone und trug sie voran für Betroffenheit und Bambule.

Wer anläßlich dieser Vorgeschichte Agitprop-Theater erhofft oder befürchtet hatte, sah sich enttäuscht. Auf realitätsnahe Straßenkampfdarstellung wurde genauso verzichtet wie auf antifaschistische Mythologie. Zum Glück hat Hübner es unterlassen, den Tathergang rekonstruieren zu wollen. Auch "Conny W." wird nicht dargestellt. Statt dessen werden drei Personen, die das Schicksal / der Zufall an jenem Abend zusammenführte, in ihrer jeweiligen fiktiven Lebenssituation beschrieben: eine Autonome (Irina Wrona), ein Polizist (Hannes Granzer) und ein aus der DDR (1989!) stammender Autofahrer (Lutz Gebhardt), der Zeuge des Geschehens wurde. Während der Polizist frustriert seinen Dienst abreißt, muß sich das autonome Politgroupie (betont görenhaft dargestellt) vor spießigen Kommilitonen genauso rechtfertigen wie vor ihrem Freund, der sie als "Freizeitrevolutionärin" diffamiert. Die in dieser Szene üblichen Phrasen und Verschwörungstheorien kommen mit einer gehörigen Portion Ironie an. Die der Antike entlehnte Verwendung eines Chors, der Zeitungsmeldungen und Parolen skandiert sowie die aufgeheizte Stimmung wiedergibt, zählt zu den Stärken des Stücks.

Daß bei der Premiere politische Prominenz im Zuschauerraum nicht fehlen durfte, war klar. Denn seit zwölf Jahren ist "Conny W." in Göttingen geläufig, quasi als Gegen-Gänseliesel der Anständigen. So beehrten die Aufführung mit ihrer Anwesenheit der niedersächsische Wissenschaftsminister Oppermann und Bundesumweltminister Trittin, die beide vor Erhalt ihrer ministeriellen Weihen an der verbalen Verharmlosung antifaschistischer Gewalteskalation Anteil hatten. Nun durften sie teils gebannt, teils amüsiert aus der Distanz zusehen, wie die erhitzte, hysterische Stimmung jener Tage auf die Bretter gezaubert wurde, wie der Chor rhythmisch die Parolen herauszischte, unter denen sie einst dem Mob hinterhergezuckelt waren.

Heiko Senst ist die Inszenierung gut gelungen – vorausgesetzt, man folgt seiner These, es sei "interessanter sich verwirren zu lassen, als sich wiedererkennen zu wollen". Allen Durchhängern, allen überkandidelten Kostümierungen und Verfremdungen zum Trotz lohnt es sich, das Stück als heimatkundlichen Beitrag anzuschauen, und das Theater danach zu verlassen in der ruhigen Gewißheit, daß es noch viel schlimmer hätte kommen können.


 
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