© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Hinein in die Marktlücke links der Mitte
Gregor Gysi: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn
Angelika Willig

Um ein bestimmtes Bild nicht zu bedienen, macht man das Gegenteil von dem, was von einem erwartet wird." Was Gregor Gysi zum Verhalten der Rot-Grünen-Koalition im Jugoslawien-Krieg bemerkt, kann auch über ihn selber gelten. Um nicht den scharfsinnigen ironischen Intellektuellen zu bedienen, den man von ihm erwartet, schreibt er ein sympathisches, aber ziemlich biederes Buch ohne rhetorischen oder revolutionären Anspruch.

Schon die durchgehende Beachtung der feministischen Grammatik – Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten – zeigt, daß der Autor vor allem eins will: keinen Fehler machen. Dabei könnte seine Wirkung, gerade auf Frauen, in der Gefährlichkeit bestehen, die eine Elite im Schatten von Mauer und Stacheldraht nun einmal besitzt. Das Wort "Elite" verwendet Gysi in DDR-Manier ganz unbefangen, wenn er feststellt, "mit welcher Konsequenz den Angehörigen der ostdeutschen Elite der Zugang auf dem Markt verwehrt" wurde. Gysi ist tatsächlich einer der wenigen, die sich durch die Wende verbessern konnten. Dennoch haftet ihm etwas Verdächtiges an. "Angela Merkel erregte sich darüber, daß sie nicht selten auf Frauen von Politikern und Wirtschaftsleuten stoße, die die PDS zutiefst ablehnten, sich aber positiv zu mir äußerten", berichtet Gysi. Der "Böse" weckt in der Frau die Erlöserin – aber nur wenn das "Gute" schon hindurchschimmert.

Gysis Wirkung auf die Medien beruht auf einem anderen Mythos: dem der intellektuellen Avantgarde. Die neue Unübersichtlichkeit verhindert nicht, daß die Leute immer noch meinen, irgendwer müßte wissen, wo es hingeht. Und wer sollte das sein, wenn nicht der Linksintellektuelle. Auch diese Hoffnung enttäuscht das Buch nicht ohne Grund. Es weiß, daß man sich mit fortschrittlichen Gesellschaftsentwürfen heute nur blamieren kann und bleibt bei der mittelfristigen Kalkulation: "Die PDS müßte beides versuchen, nämlich die Lücke zwischen sich und der SPD nie zu groß werden zu lassen, dabei auch Änderungen des eigenen Profils hinzunehmen und dennoch Unkenntlichkeit zu vermeiden." Nachdem die SPD in die Mitte gerutscht ist, tut sich links daneben genau die Marktlücke auf, mit der die PDS in die Landesregierungen und später auch in die Bundesregierung gelangen könnte. Allerdings nur, wenn "Ideologisierung" und "Sektierertum", wie Gysi die "Kommunistische Plattform" und ähnliche Tendenzen bezeichnet, sich nicht ausbreiten. Auch die "ökologische Frage", nach der Domestizierung der Grünen wiederum offen, soll in Zukunft von der PDS besetzt werden, denn sie verschafft "der sozialen Frage einen völlig neuen weltweiten Stellenwert".

Vom Klassenkampf ist überhaupt nicht mehr die Rede. Gysis schlimmste Befürchtung ist der Zerfall der BRD in "mindestens zwei Gesellschaften, zwischen denen keine Gemeinsamkeiten bestehen, nicht einmal mehr Kommunikationsmöglichkeiten". Der marxistische Grundgedanke, daß das genannte Horror-Szenario die Realität der bürgerlichen Gesellschaft ist, gilt wahrscheinlich schon als "Sektiererei". Der moderne demokratische Sozialist wünscht sich "ein Europa, in dem alle Menschen, die dort leben, gleiche Rechte hätten" – als ob nicht die "gleichen Rechte" ein Kennzeichen wiederum der bürgerlichen Gesellschaft und keineswegs eine Garantie für gleiche Lebensbedingungen seien.

Als Systemkritiker erscheint Gysi nirgendwo. Wie es aussieht, hat er sich bei der PDS vor allem als Anwalt gefühlt – als Anwalt nicht nur der arbeitslosen Eliten, sondern des "Ossi" überhaupt, der sich von Gysi auch dann vertreten fühlte, wenn er Kohl wählte. Denn den DDR-Geruch loszuwerden, braucht eben seine Zeit. Der Hausputz scheint jetzt allmählich seine Wirkung zu tun. Die PDS gewinnt an Akzeptanz, und der Fraktionsvorsitzende nimmt seinen Hut. Seine Mission ist erfüllt. Sie bestand darin, dem Westen zu erklären, "weshalb die Ostdeutschen ein so starkes Gefühl des Bedeutungsverlustes erlitten und was meines Erachtens getan werden müßte, um sie gleichberechtigt in den Vereinigungsprozeß einzubeziehen".

Der Vereinigungsprozeß ist Gysis Thema, sein "Blick zurück". Wie der "Schritt nach vorn" aussehen wird, bleibt offen. Sicher ist der Autor ein scharfer Beobachter von politischen Vorgängen im In- und Ausland. Es ist wohl auch keine Eitelkeit, wenn er seine eigene Rolle etwa im Umgang mit serbischen oder albanischen Regierungsvertretern als verantwortungsbewußt und mutig schildert. Die Kampagne wegen seiner angeblichen Stasi-Mitarbeit löst Übelkeit aus und belegt erneut die Instrumentalisierung moralischer Ansprüche im politischen Machtkampf.

Aus solchen Fährnissen geht Gysi als ein Ritter hervor, dessen Weiß nicht bloß durchschimmert, sondern aus allen Ritzen strahlt. Erlösung ist kaum mehr gefordert, an ihre Stelle tritt der "Dialog" und die nicht unrealistische Hoffnung, daß die PDS auch in den alten Bundesländern irgendwann über die Fünf-Prozent-Hürde kommt. Das ist sympathisch und auch informativ, aber nicht besonders sexy, und was die intellektuelle Herausforderung betrifft, ist man ein wenig enttäuscht. Als Michail Gorbatschow ihn im Dezember 1989 in einem Telefongespräch warnt, die SED aufzugeben, weil damit auch die Auflösung der DDR und der UdSSR verbunden sei, fühlt sich der "kleine Berliner Advokat" mit Recht überfordert.

Eine Überforderung ist es wohl auch, von dem letzten linken Intellektuellen den Auftakt zu jener lang entbehrten Theoriediskussion zu erwarten, die radikal im besten Sinne wäre. Trotzdem traurig. "Gleiche Rechte unabhängig von Glauben und Weltanschauung": wenigstens damit verschont uns der andere Berliner Anwalt, der die Bundesrepublik zu kritisieren versucht – und leider nicht mit Gregor Gysis Bescheidenheit.

 

Gregor Gysi: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn. Hoffmann und Campe, Hamburg 2001, 383 Seiten, geb., 39,90 Mark


 
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