© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/01 11. Mai 2001

 
Pankraz,
Sir John Falstaff und die Ungeduld der Insel

Nachdenkenswert fand Pankraz die Rede, die Peter Sloterdijk zur Eröffnung des diesjährigen Duisburger Kulturfestivals "akzente" gehalten hat. Es ging da gegen die Ungeduld, die als die Mutter aller modernen Übel kenntlich gemacht wurde. Seit Tertullian, dem Beinahe-Kirchenvater aus dem Karthago des zweiten Jahrhunderts n. Chr., hat niemand mehr derart massiv gegen die Ungeduld gewettert.

Im allgemeinen gilt Ungeduld ja als eine höchst läßliche Sünde, bei manchen sogar als verkappte Tugend. Wenn Prominente danach gefragt werden, was sie für ihre bedenklichste Eigenschaft halten, dann antworten sie in der Regel unter kokettem Augenzwinkern: "Meine Ungeduld." Was Schlimmeres können sie an sich selber nicht entdecken, wollen es jedenfalls nicht preisgeben. Aber zur Ungeduld, denken sie, kann sich jeder ohne Risiko bekennen. Ungeduld ist irgendwie schick, macht irgendwie sympathisch.

Nicht so in den Augen Peter Sloterdijks. Für ihn ist Ungeduld ein verächtlicher Affekt, der leider durch die Herrschaft der elektronischen Medien ungemein gefördert werde und sich zu monströsen Dimensionen auswachse. Der arrivierte Zeitgenosse, so Sloterdijk, sitzt heutzutage vor seinem Computer wie einst Robinson auf seiner Insel, vereinsamt und ohne jede echte Kommunikation. Er hofft darauf, daß irgend etwas passiert, daß jemand kommt und ihn aus seiner Einsamkeit erlöst. Und weil die Erlösung auf sich warten läßt, verzehrt er sich in blinder Ungeduld und verstrickt sich dadurch immer tiefer in die Einsamkeit.

Ungeduld also als Folge und Motor der Einsamkeit. So sah es auch jener berühmt-unbekannte Gefangene im Londoner Tower, der sich dort in einer in die Wand gekritzelten Inschrift verewigt hat, die heute noch gezeigt wird: "Nicht das Unglück tötet uns, sondern die Ungeduld". Während dieser Unglückliche aber alle Ursache hatte, ungeduldig zu werden, fröhnen die meisten der heute Ungeduldigen ihrem Laster ohne wahren Grund. Sie könnten ihren Tag ja ordentlich einteilen, ihn in Übereinstimmung bringen mit dem Rhythmus der Zeit. Statt dessen brüllen sie sinnlos herum und gehen sich und anderen auf die Nerven.

D er von Sloterdijk beobachtete Zusammenhang zwischen modernen Medien und wachsendem Hang zur Ungeduld entschuldigt die Herumbrüllenden nicht, er erklärt nur einiges. Dominierte in früheren Zeiten die Ungeduld von Tätern, die "endlich Resultate" sehen wollten, so nervt heute in erster Linie die Ungeduld von Zuschauern, die den Selbstmörder auf dem Brückengeländer sehen und es nicht erwarten können, daß er endlich in die Tiefe springt. "Spring doch endlich!" Dieser Ruf ist geradezu zur Spitzmarke der modernen Ungeduld geworden.

Woraus wieder einmal erhellt, wie recht Hans Blumenberg hatte, als er schrieb: "Wer keine Zeit hat, das ist der Teufel." Gott hat dagegen viel Zeit. "Die Geduld ist so sehr über die Wege Gottes gesetzt", schrieb Tertullian in seinem Traktat über Geduld und Ungeduld, "daß niemand eine Vorschrift zu erfüllen, niemand ein wohlgefälliges Werk zu verrichten imstande ist, der der Geduld entbehrt. Jede Sünde ist auf Rechnung der Ungeduld zu schreiben. Das Böse ist die mangelnde Geduld im Guten."

Solche Rede ist mit Sicherheit wahr, und sie birgt sogar noch eine tolle Pointe, wenn auch eine trübselige. Tertul- lian, der römische Rechtsanwalt aus heidnisch-vornehmem Hause, war erst als reifer Mann zum Christentum übergetreten – und konnte es von da an nicht mehr erwarten, daß der Messias endlich erscheine und sein Reich der Liebe aufrichte. Bald wütete er gegen seine eigene Lehre von der Bosheit der Ungeduld, schloß sich der Sekte der Montanisten an, die das Reich Gottes jetzt und sofort mit Fasten und Gesellschaftsausstieg herbeizwingen wollten, und endete anno 225 exkommuniziert und in Bitterkeit.

Gott hat wirklich viel Zeit. Die Natur hat unendlich viel Zeit, absolviert die Erdzeitalter und die Entwicklung der lebendigen Arten in Millionen von Jahren, und für uns kurzzeitige Menschen gilt wohl, daß wir sie zwar bewundern und ihr Maß respektieren, sie aber nicht direkt nachahmen sollten. Wir müssen unser eigenes Maß finden, auch in der Zeiteinteilung, dürfen nicht verzagen, wenn wir in unserem Leben so wenige "Resultate" zu sehen bekommen, müssen weiter fleißig säen und auf dem für richtig Erkannten beharren.

Es gibt dafür einen abgründigen Spaß bei Shakespeare, in den "Lustigen Weibern von Windsor", wo der Wirt dem dicken, sowohl rauf- als auch liebesgeilen Falstaff höchst zweideutig rät: "Gieß kalt Wasser auf deinen Zorn! Steck deine Ungeduld in die Scheide!" Die Ungeduld muß in die Scheide gesteckt werden, doch das Wasser darf nie so kalt sein, daß es außer dem Zorn auch noch andere Aktivitäten abkühlt und zur Erschlaffung bringt.

Für die modernen Ungeduldigen, die Sloterdijk in seiner Duisburger Rede ins Visier nahm, liegt der Fall natürlich anders. Sie können ihre Ungeduld gar nicht mehr irgendwohin stecken, erstens weil sie in exklusiv virtuelle Welten verstrickt sind, wo es gar keine wie immer geartete körperliche Kommunikation mehr gibt, zweitens weil sie sich selber zum bloßen Zuschauerstatus verurteilt haben. Die Angebote des von ihnen bevorzugten Mediums zur "interkommunikativen Aktion", zum "Mitspielen", sind – da ist Sloterdijk voll zuzustimmen – Scheinangebote, die die drohende "Verinselung" des modernen Medienteilnehmers nicht verhindern können.

Zum Fatalismus ist aber kein Anlaß. Der Medienteilnehmer braucht doch nur die Elektronik abzuschalten und sich unter Leute zu begeben (wobei ihm zu raten wäre, das Handy zu Hause zu lassen). Selbstverständlich gehört auch dazu, zum Unter-die-Leute-Gehen, Geduld, aber es ist immerhin schon die Geduld von potentiellen Tätern, die Geduld à la Falstaff, die sich nicht damit begnügt, auf Ereignisse lediglich zu warten.


 
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