© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/01 11. Mai 2001

 
Umschulung zum Sterbehelfer
von Angelika Willig

Jeder stirbt für sich allein", schließt Günther Zehm seinen Leitartikel zum Thema Sterbehilfe. Er meint damit, daß Art und Zeitpunkt des eigenen Todes nicht gesetzlich zu regeln sind. Ein Gesetz faßt den allgemeinen Fall, nicht den Einzelfall. Zehms Verteidigung der "Grauzone" gibt dem Einzelnen noch mehr Freiheit als die liberalen Niederländer. Ohne Gesetz gilt nur noch das Gewissen.

Sicher ist das Sterben eine individuelle Sache – jedoch nicht nur. Der Tod enthält auch eminent politische Dimensionen. Das sieht man zum Beispiel daran, daß die Wähler der PDS und der NPD sich in einem Punkt erstaunlich einig sind: Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage befürworten beide mit überdurchschnittlicher Häufigkeit die aktive Sterbehilfe.

Nun wurde zwar festgestellt, daß das Sterbehilfe-Gesetz eine Errungenschaft des Liberalismus sei, aber das darf uns nicht verwirren. Obwohl der Tod, ebenso wie die Liebe, stets auf das gleiche hinausläuft, sind bei beiden verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden. Der liberale Tod ist der unpolitische Tod, denn das neue Gesetz entscheidet ja nichts, sondern gibt nur die Entscheidung frei. Keiner wird gezwungen, keiner braucht zu unterschreiben. Und die unpolitischen liberalen Einwände gelten bloß einer möglichen Manipulation des Willens, einem nie auszuschließenden psychologischen Druck, einer eventuellen Einschränkung der Freiheit, nie aber der Ausdehnung der individuellen Freiheit selbst.

Es gibt aber auch politische Einwände gegen Selbstmord in jeder Form, und die kommen von den Konservativen. Die Konservativen lehnen die Euthanasie nicht deshalb ab, weil der Todeskandidat unter Druck gesetzt worden sein könnte, sondern sie sprechen ihm als einem Individuum die Entscheidungsgewalt über sein Leben ab und verlangen, daß er sich dem Willen der Gemeinschaft unterwerfe. Konservative christlicher Prägung sprechen statt von "Gemeinschaft" lieber vom "Willen Gottes", doch der Philosoph kann darunter nichts anderes verstehen als den Willen derer, die Gott auf Erden vertreten, also die Kirche oder die christdemokratischen Parteien, jedenfalls eine Gemeinschaft, die sich verpflichtet hat, den Alten und Kranken bis zu seinem wann auch immer eintretenden Tod zu pflegen, wofür dieser verpflichtet ist, sich geduldig pflegen zu lassen.

Wo liegt der Sinn dieser Regelung, wenn dafür so große politische Lasten wie zuletzt die Pflegeversicherung übernommen werden?

Man sollte bedenken, aus welcher Zeit die konservativen Grundsätze stammen: aus einer lange vergangenen Zeit. Der medizinische Fortschritt fing damals erst an. Wenn nun jeder Kranke und überhaupt Leidende kurzerhand ins tiefe Wasser gesprungen wäre (damals konnten nur wenige schwimmen), hätte es ja keinen Grund gegeben, entsprechende Mittel zu erforschen, und auch keine "Versuchskaninchen", um die Mittel auszuprobieren.

Auch hätte es, wenn jeder Melancholiker den Dolch gegen sich selbst gewendet hätte, wahrscheinlich nie eine Philosophie oder Literatur gegeben, ganz zu schweigen von Sigmund Freud oder Dale Carnegie. Man kann Zehm darin nicht widersprechen, daß das Leiden an den Ursprung menschlicher Kultur führt und nicht etwa – wie es beim Blick auf Geriatrie und Psychiatrie scheint – an deren Ende. Sogar die Evolution wäre nicht in die Gänge gekommen, wenn sich die prähistorische Maus, von der Härte ihres Daseins bei fehlenden Aufstiegschancen entmutigt, den Krallen der Katze ausgeliefert hätte. Die Evolution beruht darauf, daß jedes Lebewesen mit äußerster Anstrengung und ohne nachzulassen um sein Leben kämpft, denn nur so werden die herausgefiltert, deren Kräfte und Fähigkeiten "objektiv" nicht ausreichen, um sich und die eigene Art zu erhalten. Das "subjektive" Versagen vor der Natur in Form des "Selbstmords" gibt es bei den Tieren nicht. Also nicht nur die Kulturgeschichte, auch das Naturgesetz spricht für das Leiden.

Wenn nun Menschen in zunehmendem Umfang sich dieser Tradition entgegenstellen, müssen Konservative auf die Barrikaden gehen. Sie verstehen aber – wie gewöhnlich – nicht, daß ein Prinzip zweitausend oder zwei Milliarden Jahre gut sein kann und dann irgendwann in den Negativbereich kippt. Sie verstehen nicht, daß die Welt sich verändert. Es ist klar, daß eine natürliche Auslese beim Menschen heute nicht mehr stattfindet. Sobald der Organismus Schwächen zeigt, wird ein medizintechnisch aufwendiger Apparat eingesetzt, um sie zu beheben oder auszugleichen. Das "Wagnis Leben", für das Konservative wie Klaus Kunze sich begeistern, besteht mittlerweile nur noch darin, die "klinisch saubere, normierte Todespille" standhaft abzulehnen und das "Abenteuer Pflegeheim" bis zum "tragischen Ende" auf sich zu nehmen. Schafft man dann noch die Krankenhäuser ab und verweist die Schwerkranken auf ihre Familien, dann glaubt man sich im "Erbe von Björndal" oder einer anderen Bauern-Saga: "Die Familie versammelt sich am Sterbebett und nimmt Abschied, so war das einmal."

So war das einmal, sagt Kunze. Und wann war das so? In der guten alten Zeit, als die Leute sich noch beeilten mit dem Sterben und nicht monatelang herumlagen, denn schließlich kann keine Familie monatelang feierlich dastehen und den Sterbenden ehren. Als die Kranken das Laken nicht verdreckten, keine eitrigen Stellen zeigten und nicht rochen, denn auch das hätte die Feierlichkeit gestört. Es waren die guten alten Zeiten, als man sich über die Krankheit und das Sterben noch schöne Illusionen machte und vor der Wirklichkeit heroisch die Augen – und die Nase – verschloß, denn was sollte man sonst machen? Heute aber gibt es Kliniken, es gibt Heime, es gibt die "Todespille". Und da verzichten Familien lieber auf das "Wagnis", einen Sterbenden auf die Wohnzimmercouch zu legen, und der Opa verzichtet mit den letzten Portionen "Fahrbarer Mittagstisch" ohne großes Bedauern auf seinen "natürlichen Tod".

Auch kulturell fragt es sich, ob das Leiden noch immer die Quelle "hoher Tugenden" ist und, wie Zehm schreibt, "große Werke" zutage fördert. Auf diese hohen Töne und großen Werke wartet der Konservative heute vergeblich, ohne daß man es der Sterbehilfe anlasten könnte. Gelitten wird mehr als genug, und doch fällt die Kulturentwicklung eher bescheiden aus. Auch hier ist offenbar etwas "in den Negativbereich gekippt". Es gibt beim leidenden und kränkelnden, mit sich selbst beschäftigten Individuum eine Grenze, die etwa bei Thomas Mann erreicht ist. Wer darüber hinaus das gleiche Thema malträtiert, trägt vielleicht zum Umsatz seines Verlages, aber nicht mehr zur Kulturentwicklung bei. Das eigene Leiden kann produktiv sein, es kann aber auch – wie der moderne Leser oft erfahren hat – unerträglich eitel, langweilig und in jeder Hinsicht unappetitlich sein.

Die Philosophie des Leidens ist schon eine sehr differenzierte Position. Einfacher gestrickten Gemütern bleibt der Vorwurf, daß der Selbstmörder sich seiner Pflicht und Verantwortung entziehe und die Seinen mit einem dicken Schuldgefühl zurücklasse. Wem das egal ist, für den haben die Konservativen die universell einsetzbare Dammbruch-Formel: "Wenn man erst einmal anfängt ...", dann lande man bei dem von Zehm beschriebenen "routinierten Tötungs-Betrieb".

Und damit wären wir bei dem Umfrageergebnis. Das haben PDS und NPD auf jeden Fall miteinander gemeinsam: weniger Furcht vor dem, was kommen könnte, "wenn man erst einmal anfängt". Obgleich aus reizvollen Experimenten schon zweimal häßliche Trümmerhaufen wurden, die jede Warnung bestätigen – trotz alledem bleibt der Wille, einen neuen Anfang zu wagen.

Doch dazu müssen erst mal die alten Probleme weg, sprich das Arbeitslosenproblem, das Rentenproblem, das Zuwanderungsproblem, das Gesundheitsproblem und das Umweltproblem. Diese Fragen sind allesamt durch eine drastische Verminderung der Lebenserwartung – und nur so – zu lösen. Zunächst wird die Rente abgeschafft. Es verringern sich dadurch die monatlichen Abzüge und die Lohnkosten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind zufrieden. Wer unbedingt nach der Pensionierung noch weiterleben will, hat die Kosten selbst zu tragen plus einer Entschädigung für Lärmbelästigung und verbrauchte Luft. Ein Bevölkerungsrückgang ist ökologisch sinnvoll, ja notwendig. Qualität geht vor Quantität. Insofern zeigt der Geburtenrückgang eine gesunde Ahnung im deutschen Volk an. Nur müßten gleichzeitig die Todesfälle zunehmen, sonst verschiebt sich das Gleichgewicht in eine ungute Richtung. Und schnell tönt dann der Ruf nach Zuwanderung: In ein bereits übervölkertes Land, wo man kaum einmal eine halbe Stunde spazierengehen kann, ohne schon die nächste Pommes-Bude zu riechen, sollen massenhaft Menschen einwandern, die hoffen, mit einer weiteren Bude das Geld für einen weiteren Auspuff zu verdienen.

In der DDR hat es eine Zuwanderung ohnehin nicht gegeben, und die NPD begriff längst, daß "Volk ohne Raum" heute nicht mehr bedeuten kann "zu wenig Raum", sondern "zu viel Volk". Wenn man sich die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ganz nüchtern betrachtet, so wird schnell klar, daß jeder Sparansatz – auch noch die von Ärzten und Patienten schon als nicht zumutbar bezeichneten und mit Streikmaßnahmen bekämpften Vorschläge – unzureichend und von vornherein vergeblich ist, wenn gleichzeitig die Zahl älterer und alter Menschen ständig steigt, die dauernd krank und pflegebedürftig sind, woran auch der medizinische Fortschritt nichts ändert, im Gegenteil. Mit dieser Belastung wird sich das Gesundheitssystem niemals erholen. Aus reiner Notwendigkeit wird man zur Zwei-Klassen-Medizin übergehen mit erheblichen Nachteilen für einen Großteil der Bevölkerung, nämlich die Normalverdiener.

Klaus Kunze stellt sich vor, wie "ein Weißkittel mit Giftspritze" sich dem Bett nähert und Krankenschwestern warten, um es für "den Nächsten auf der Liste" frisch zu beziehen. So ist es nicht gemeint. Zehm spricht viel zutreffender vom "schwierigen Geschäft, für das wirklich gebildete Sterbehelfer gebraucht werden, Meister und Meisterinnen des Mitleidens und Mitfühlens". Mit Zivis ist das nicht zu machen. Vielmehr eröffnet sich hier ein ganz neuer Arbeitsmarkt mit besten Chancen auch für die, die mit Elektronik und Technik nichts anfangen können, sondern deren Qualitäten mehr im sozialen Bereich liegen. Die Umschulung zum diplomierten Sterbehelfer garantiert im Gegensatz zu anderen Fortbildungsmaßnahmen einen sicheren Arbeitsplatz. Die Investition lohnt sich vor allem deshalb, weil das spätere Einkommen aus einem kleinen Grundgehalt plus Trinkgeldern besteht, die von ein paar Mark bis hin zu größeren Erbschaften gehen können. Nicht wenige alte Leute denken mit Genuß an den Augenblick, wenn das Testament eröffnet wird und die Verwandtschaft sich zugunsten des Tierschutzvereins – oder des "netten jungen Mannes vom Krankenhaus" – auf den Pflichtteil beschränkt sieht.

Es ist fast unheimlich, wie hier eine einfache Maßnahme Grund legt für jene zukunfsfähige Politik, die wir brauchen, und auf die wir bisher vergeblich warteten. Nach den Jahren des Aussitzens und Durchwurstelns wirkt sie als Befreiungsschlag. Ohne Opfer geht es freilich nicht, doch die breite Zustimmung der Bevölkerung dürfte an dieser Stelle gewiß sein. Ist doch der politische Tod in allen Zeiten und bei allen Völkern anerkannt gewesen. Keine Mutter hat sich beklagt, wenn der Sohn gefallen, keine Ehefrau, wenn sie Witwe geworden war, man übte sich "in stolzer Trauer", und keiner kam auf die Idee, sich gegen das Opfer junger, gesunder und lebensfroher Menschen zur Wehr zu setzen. Der Krieg galt als notwendig, um das eigene Volk zu sichern. Das gleiche gilt für unseren Fall – nur daß hier die Opfer alt, krank und lebensmüde sind und nicht einmal propagandistisch bearbeitet werden müßten, um einzusehen, was das Vernünftigste ist.

Eine rot-braune Koalition ist die einzige politische Kraft, die den Mut zu dem umfassenden Reformwerk finden könnte. Wenn man sieht, wie lange schon die Steuerreform dahinsiecht, und welches Jammerbild die Schulen und Universitäten bieten, so ist klar, daß die Altparteien mit den großen nationalen Fragen hoffnungslos überfordert sind. Nach dem Subsidiaritätsprinzip mögen die Grünen in ihrem Bezirk eine verkehrsberuhigte Zone anlegen oder die CSU auf der Alm eine lila Kuh gentechnisch fördern, dann ist aber auch Schluß. Rot-Braun ist die Alternative – aber man muß sich beeilen. Das Verbotsverfahren gegen die NPD ist angelaufen. Noch weiß keiner, wie es ausgeht. Doch die PDS scheint bereits anderweitig zu sondieren. Der Canossa-Gang wäre nicht nötig gewesen, wenn man sich nicht den Weg ins bürgerliche Lager öffnen wollte. Und ist man erst mal an der Macht, verwandeln sich Lösungen schnell in Versprechen, die aus diesem oder jenem guten Grunde nicht oder vorläufig nicht realisiert werden können. Dann sind es plötzlich die Medien, die Kirchen, die Europäische Kommission, die Opposition, die Amerikaner und die Frauenbeauftragten, vor allem aber die Grauen Panther, die Bedenken anmelden. Und bevor die nicht ausreichend berücksichtigt sind, passiert in Sachen Sterbehilfe gar nichts. Nichts drängt unsere Mandatsträger. Es betrifft sie ja nicht. Denn wer oben angekommen ist, hat sie ohnehin in der Tasche, die bewußte Pille, für den Fall, daß der Reaktor explodiert, daß der Virus ausbricht – oder daß es mit der Rente und der Arbeitslosigkeit und der Zuwanderung doch irgendwann mal zusammenbricht. Dann schlucken wir sie schnell.

P.S.: Selbstverständlich ist dies eine fürchterliche Vision – angesichts des technokratischen Charakters derzeitiger Debatten aber bereits für die nahe Zukunft nicht mehr völlig auszuschließen ...

 

Angelika Willig schrieb auf der Forum-Seite zuletzt über deutsche Leitkultur (JF 45/00). Ihr hier veröffentlichter Beitrag beendet vorläufig eine in der JUNGEN FREIHEIT geführte Debatte zum Thema Sterbehilfe. Zuvor erschienen Aufsätze von Günter Zehm ("Jeder stirbt für sich allein", JF 18/01), Jens Jessen ("Die Logik der Spaßgesellschaft", JF 18/01) und Klaus Kunze ("Holland ist überall", JF 19/01).


 
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