© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/01 18. Mai 2001

 
Pankraz,
der Rabbi und die Biographie vom Faß

Ein neuer Berufszweig etabliert sich: der des "Biographieschreibers". Immer öfter erscheinen Anzeigen in den Zeitungen, in denen sich schreibgewandte Jungunternehmer anbieten, die Biographie eines beliebigen Zeitgenossen zu verfassen, gegen Entgelt, versteht sich, dafür aber "garantiert authentisch", nach gründlichem Studium aller zur Verfügung gestellten Unterlagen und ausführlicher Tonband-Einvernahme des betreffenden Kunden.

Die Preise schwanken offenbar nach Umfang und stilistischem Aufwand. Pankraz muß dabei an jene maghrebinische Geschichte bei Gregor von Rezzori denken, wo der Rabbi von Sadagura einem Gemeindemitglied, das seinen Vater beerdigen will, die Preisklassen der verschiedenen Leichenreden erläutert.

Es gibt da außerordentlich teure Angebote, in denen der Verstorbene als ein wahrer Ausbund von Tugend und Verdienst erscheint, und weniger teure, in denen er immerhin im milden Licht gutmütiger Erinnerung steht und die Zuhörer durchaus zu Tränen gerührt werden. Ganz am Ende des Kataloges findet sich auch noch eine extrem billige, wahrhaft kulante Offerte, aber "zu der", sagt der Rabbi mit leicht drohendem Unterton, "würde ich Ihnen nicht raten".

Besteht denn wirklich ein verwertbares Bedürfnis nach "Leichenreden für Lebende"? Oder waltet eine strikt angebotsorientierte Strategie, bei der die Anbieter das Bedürfnis durch ihr Angebot erst schaffen? Jedermann verfügt heute doch über genügend Mittel, sich seine eigene Biographie lückenlos von der Wiege bis zur Bahre zusammenzustellen: Fotoalben, Amateurfilme, Videos nebst angeschlossenem Recorder. An Authentizität ist kein Mangel.

Freilich sind das alles Bildmedien, und so sehr manmit Bildern anderen gegenüber, in der "Öffentlichkeit", manipulieren kann – im privaten Bereich erschlafft die manipulative Kraft des Bildes. Die Fotos und Videos aus meinem Leben stimmen genau mit meiner Erinnerung überein, oder sie sind buchstäblich nichts. Wenn ich Wert lege auf eine "Überhöhung" meiner Erinnerung, auf ihre Einordnung in einen Sinnzusammenhang, dann muß ich zum Medium der Sprache greifen.

Die neue Sehnsucht nach sprachlich gefaßter Biographie – so sie denn existiert – käme nicht trotz, sondern gerade wegen des Überangebots an technisch-bildlichen Erinnerungsmedien. Diese legen mein Leben auf einige wenige äußere Wahrnehmungskomponenten fest, rauben ihm faktisch die Innenseite, verwandeln es in ein gespenstisches Gezappel ohne Sinn und Verstand. Dagegen begehren die lebendigen Seelen nun auf.

Mit Sicherheit wollen sie nicht nur "Gutes" im Sinne von Leichenreden über sich hören, vielmehr geht es um ehrliche Rechenschaft, um die Erkenntnis von gemachten Fehlern und verpaßten Chancen, aber auch um späte Genugtuungen und die Vergegenwärtigung kostbarer Gefühlswelten, innerer Abenteuer. Kein noch so raffiniert gemachter Hochzeitsfilm kann solche Vergegenwärtigung leisten.

Was ist nun aber mit den professionellen Biographieschreibern, die ins Geschäft drängen? Reicht es bei denen für die Vergegenwärtigung? Sicher sind sie sprachgewandter und vielleicht auch phantasievoller als die meisten ihrer Kunden, aber erlebt haben sie das, was sie aufschreiben sollen, nicht. Es bleibt bloßes Hörensagen und Sichhineinversetzen, und unterm Strich, vermutet Pankraz, wird der Text doch viel, viel mehr vom Aufschreiber künden als von dem, dessen Schicksal er aufgeschrieben hat.

Man schaue sich die letzten Romane von Martin Walser an, die ja allesamt aus dem Aufschreiben fremder Durchschnittsbiographien entstanden sind! Walser hat ganze Zettelkästen mit Mitteilungen aus dem Leben seiner Klienten gesammelt, sprach mit ihnen, so sie noch zu sprechen waren, beobachtete sie aufs genaueste in ihrem Gehen und Stehen. Was es aber schließlich zu lesen gab, waren eben doch wieder die altbekannten Zimmerschlachten vom Bodensee, die altbekannten Rankünen und Perspektiven. Gute Schriftsteller können nicht aus ihrer Haut heraus und noch weniger aus ihrer Sprache.

Die von den professionellen Biographieschreibern Biographisierten werden sich in den von ihnen gekauften Texten nicht wiedererkennen. Natürlich werden viele von ihnen geschmeichelt sein angesichts der fertigen Biographie, wie ja auch der berühmte Werwolf in Morgensterns Galgenliedern, der sich von einem Schulmeister "durchdeklinieren" ließ, geschmeichelt war ("ihm schmeichelten die vielen Fälle"). Aber am Ende verabschiedete er sich von dem Schulmeister unzufrieden und "tränenblind" – und dabei hatte er für die Deklination nicht einmal bezahlen müssen.

Kürzlich verlautbarte Günter Grass auf der Pariser Buchmesse, ein Schriftsteller, der immer nur von sich selbst erzähle, sei gar keiner, die große Bewährungsprobe für einen Erzähler komme immer erst bei der "Bändigung fremden Schicksals". Das war ein Credo für Historiker, die das Außen mehr interessiert als das Innen und die Aussage mehr als die Sprachgestalt. Und selbst als solches bleibt es fragwürdig.

Historiker bändigen bestenfalls Ereignisse, vergangene Ereignisse, nie und nimmer Schicksale. Sie sind im Grunde Filmkameras; je mehr die Kameratechnik fortschreitet, um so mehr müssen sie sich ihr anpassen. Wenn die jetzt vielerorts annoncierenden Biographieschreiber ausdrücklich darauf verweisen, keine Schriftsteller zu sein, sondern Historiker und nichts als Historiker, so verfehlen sie eindeutig die von ihnen angepeilte Kundschaft, die gerade keine Kameras, sondern echte Erzähler will.

Es wird, fürchtet Pankraz, viel Mißverständnisse und Frust geben in der neuen Boombranche namens "Biographie vom Faß". Hoffentlich platzt sie nicht gleich wieder entzwei wie voriges Jahr die New Economy.


 
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