© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/01 18. Mai 2001

 
Ist Rudolf Augstein ein Zyniker?
Der "Spiegel"-Herausgeber sieht sich in der Tradition einer antiken Denkschule
Günter Zehm

In einem interessanten Interview, das Rudolf Augstein der Welt am Sonntag gegeben hat, kam der Spiegel-Herausgeber auch auf Philosophisches. Helmut Markwort vom Konkurrenz-Magazin Focus hatte ihn einst einen "bekennenden Zyniker" genannt, das wurmte den alten Herrn offenbar, und so gab er jetzt zu Protokoll, daß der Zynismus etwas sehr Vornehmes sei, "eine Denkschule, die sich auf Sokrates berufen kann".

Daran ist soviel wahr, daß sich nach Sokrates’ Tod alle damaligen Denkschulen auf ihn beriefen, die Hedonisten, die Megariker (Liebhaber des Paradoxes), die Idealisten und eben auch die Kyniker. Tatsächlich umfaßte Sokrates sie alle – und überstieg sie alle. Pointe seines Denkens war, daß man sein Leben unter das Gesetz des Wahren und Guten stellen müsse, was immer auch passiere, daß es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Zur Verachtung weltlicher Güter und spontaner menschlicher Antriebe und der Weltläufte insgesamt sah Sokrates keinen Grund. Das unterschied ihn von den Kynikern, die gerade diese Verachtung zu ihrer Hauptmaxime gemacht hatten.

Ist Augstein ein Zyniker? Nur in Betrachtung der "großen Weltpolitik", sagte er in dem Interview. Er verachte also die große Politik, lasse sie sich egal sein, bedürfe ihrer nicht. Stimmt das denn wirklich? Hat er die große Politik nicht sein Leben lang mit leidenschaftlichen Kommentaren begleitet?

Natürlich könnte Augstein nun sagen: "Darin besteht doch gerade meine spezifische Form von Zynismus. Ich kommentiere die große Politik, aber ich nehme mich dabei nicht ernst." Das wäre zweifellos originell, aber "kynisch" im Sinne der klassischen Denkschule wäre es nicht. Kaum jemand nahm sich selbst je ernster als die alten Kyniker. Und auch Augstein scheint sich doch recht ernst zu nehmen.


 
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