© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/01 25. Mai 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Im Baltikum kein "Tag der Befreiung"
Carl Gustaf Ströhm

Zum diesjährigen 8. Mai – dem Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges – gab der "Verband der Frontkämpfer Estlands" eine Erklärung ab, die auch heute die delikate Situation des Baltikums widerspiegelt. "Der Tag des Waffenstillstands ist kein Tag des Sieges", heiß es. Diese Feststellung trifft für Estland, Lettland und Litauen sicher zu, denn während man etwa in Kopenhagen, Amsterdam oder Brüssel die Befreiung feierte, begann für die Balten die Nacht der Sowjetisierung, der Unfreiheit, der Verfolgungen, Deportationen und neuer schrecklicher Opfer.

Weiter heißt es in der Frontkämpfer-Erklärung : "Die Einwohner Estlands nahmen zwangsweise am Zweiten Weltkrieg sowohl in der Roten Armee wie auch in der deutschen Armee teil. Das war eine große Tragödie … An diesem Tag senken wir unser Haupt vor den Opfern und Leiden des Volkes im Zweiten Weltkrieg und den ihm folgenden Ereignissen …"

Es ist klar, was hier unter den "folgenden Ereignissen" zu verstehen ist: eine Welle der Unterdrückung, die das estnische Volk an den Rand der physischen und psychischen Auslöschung führte. In Estland wurde die russische Reaktion auf diese Erklärung mit Sorge registriert. Denn die russische Seite – zumindest die offizielle und medienmäßig wirksame – ist auch heute nicht bereit, allen damaligen Opfern eine Schweigeminute zuzubilligen. Da die meisten jungen Esten auf der deutschen Seite kämpften, sind sie "Faschisten", die es nicht anders verdient haben. Im übrigen, so lautet die offizielle Moskauer Version, habe sich Estland (wie die anderen baltischen Staaten) 1940 "freiwillig" und durch einen "legalen" Willensakt von Parlament und Regierung der Sowjetunion angeschlossen. Daher hätte die Sowjetarmee 1944 nichts anderes getan, als die "gesetzmäßige Regierung" (unter Führung Stalins) wiederherzustellen.

Nun mag man einwenden, dies sei nach so vielen Jahrzehnten ein Streit um Kaisers, wenn nicht gar Stalins Bart. Dennoch fällt auf, daß die Siegesfeiern russischer (und einstmals sowjetischer) Zweiter Weltkriegs-Veteranen in der estnischen Hauptstadt Reval (Tallinn) immer dreister werden. Während der 8. Mai für Estland keine Siegesfeier wert ist, wurden jetzt mehrere in Estland hochdekorierte Kriegsveteranen der einstigen Roten Armee zu den obligaten Moskauer Siegesfeiern eingeladen und dort von Präsident Wladimir Putin persönlich empfangen. Was Putin den betagten Kriegern – darunter ein estnischer "Held der Sowjetunion" – zu sagen hatte, war in der Tat bemerkenswert. "Ihr seid dort (nämlich in Estland) auch heute wieder wie an der Front", gab Putin den roten Helden mit auf den Weg.

Skeptische Esten vermuten, daß es, wo es eine Front gibt, auch Kampf geben müsse – und daß der Kampf um Estland folglich für Putin nicht beendet sei. Was aber bedeutet dies in der Praxis? Im November 2002 soll auf einem Nato-Gipfel in Prag über die zweite Tranche der Nato-Osterweiterung beschlossen werden. Den Esten, die sich bemühten, alle Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft im westlichen Bündnis zu erfüllen, schwant schon jetzt, daß man sie im Regen stehen lassen wird. Allenfalls Slowaken und Slowenien haben da Chancen. Der Westen wird mit Rücksicht auf Moskau zurückweichen – und Rußland wird den "Antifaschismus" (und den antideutschen Komplex) instrumentalisieren, um die Balten nieder- und für den Kreml alle Optionen offenzuhalten. Daß es soweit kommen konnte, ist kein Ruhmesblatt für die westliche Baltikum-Politik.


 
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