© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/01 25. Mai 2001

 
Die neue Unübersichtlichkeit im Osten
Tanja Wagensohn: Rußland nach dem Ende der Sowjetunion
Wolfgang Seiffert

Jedes Buch über die Ära Jelzin und den Machtantritt Putins, über die letzten zehn Jahre Rußlands nach dem Ende der Sowjetunion, das über diese Zeit sachlich und inhaltsreich informieren will, ist schon deshalb zu begrüßen, weil in der deutschen Öffentlichkeit über diese zehn Jahre nur sehr verschwommene, oft klischeehafte Vorstellungen kursieren. Oder aber vieles, was in Moskau Schlagzeilen produzierte, schon wieder aus dem Gedächtnis verschwunden ist. Mit diesem Werk der jungen Politikwissenschaftlerin Tanja Wagensohn aber – um dies vorwegzunehmen – liegt nicht nur ein informatives und von westlichen Voreingenommenheiten weitgehend freies Buch vor. Es hält auch dem Anspruch stand, die Geschichte der russischen Entwicklung, der neuen Unübersichtlichkeit im Osten, seit 1990 präzise zu analysieren.

Vor allem gewinnt man einen Gesamteindruck davon, daß sich bei allen Widersprüchen und unruhigen Ereignissen bis zum zweimaligen Tschetschenienkrieg Rußland von der kommunistischen Herrschaft weg zu einem neuen Gebilde gewandelt hat. Staat, Gesellschaft und Kultur gewinnen neue Konturen. Es mag für manchen etwas skurril erscheinen, wenn die Autorin am Schluß ihres Werkes auf die "letzte Insel" zu sprechen kommt, die "Datscha", jenes "Landhaus", zu dem schon am Freitagabend alle, die eine besitzen oder wenigstens jemanden kennen, der eine hat, hinausfahren. Es zeugt vom Einfühlungsvermögen Frau Wagensohns, wie sie diese hier zutage tretenden russischen, die Sowjetherrschaft überdauernden Mentalitäten erfaßt.

Trotz des vorherrschenden positiven Eindrucks scheinen einige kritische Anmerkungen angebracht. Dabei ist zu konstatieren, daß die Informationsfülle, die diese Studie vor allem für den mit Rußlands Verhältnissen unvertrauten deutschen Leser enthält, doch einige wesentliche Prozesse nicht oder nur mit Nebensätzen erwähnt. Das gilt vor allem für die deutsche Wiedervereinigung, der andere Politologen wie Angela Stent oder Condoleeza Rice, die jetzige Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, bekanntlich ganze Bücher widmeten. Nun fällt die Wiedervereinigung zeitlich in das Ende der Ära Gorbatschow und die ersten machtpolitischen Tastversuche Jelzins. Doch ihre Auswirkungen sind so tiefgehend, daß sich das Ende der Sowjetunion und das anschließende russische Dezennium ohne diese Umwälzungen kaum erklären lassen.

Hier stoßen wir zugleich auf ein anderes Phänomen, das sich bei vielen Politologen findet: die ungenügende Berücksichtigung juristischer Fragen. Dabei zeichnet sich die Autorin gegenüber ihren Kollegen gerade dadurch aus, daß sie viele juristische, vor allem verfassungs- und völkerrechtliche Fragen völlig zutreffend behandelt. So bezeichnet sie etwa die Aktivitäten des sogenannten Notstandskomitees von 1991 präzise als "Staatsstreich", und ebenso genau ordnet sie die Tatsache ein, daß die Russische Föderation an die Stelle der UdSSR in den Organen der Uno trat: nämlich nicht als "Fortsetzung des Staates Sowjetunion", wie dies manche andere Autoren leider zu tun pflegen.

Doch diese Präzision im juristischen Detail macht den Mangel nicht wett, daß Frau Wagensohn den "großen Vertrag" – wie Boris Meissner, der Nestor der deutschen Osteuropawissenschaft, den Partnerschaftsvertrag zwischen Deutschland und UdSSR/Rußland nennt – mit keinem Wort erwähnt. Nun geht es hierbei nicht um juristische Fragen im engeren Sinne, sondern darum, daß es von eminent politischer Bedeutung ist, daß die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau auf einer festen vertraglichen Beziehung beruhen. Mit ähnlichen Ausblendungen haben wir es in ihrem (dankenswerten) Exkurs über die Rußlanddeutschen zu tun. Hier spricht die Autorin davon, daß es seit 1997 eine "national-kulturelle Autonomie der Rußlanddeutschen" gibt (die übrigens nicht von der russischen Regierung geschaffen wurde, die Rußlanddeutschen haben vielmehr als erste Minderheit von den gesetzlich eröffneten Möglichkeiten Gebrauch gemacht), aber ganz außer acht läßt, daß ein bilaterales Protokoll der deutschen und russischen Regierungen die allmähliche Wiederherstellung der rußlanddeutschen Staatlichkeit vorsieht. Eine Verpflichtung, die übrigens bis heute nicht erfüllt ist.

Schließlich dürfte es reichlich übertrieben, wenn nicht überhaupt unzutreffend sein, das Kapitel über Putins Politik unter die Überschrift zu stellen: "Mißlungene Wiederauferstehung: das Jahr 2000". Zumal Frau Wagensohn hierfür allein auf den Untergang des Atom-U-Bootes "Kursk" in der Barentssee abstellt. Diese Verengung ist um so unverständlicher, als die Autorin selbst auf die konzeptionellen Ansätze Putins verweist, die schon im Sommer 2000 sichtbarer wurden, als dieses Buch offenbar redaktionell "im Kasten" war. Noch einige weitere Mängel wären zu rügen. So ist etwa zu bemerken, daß das wesentliche Ergebnis des Abkommens von Minsk (vom 8. Dezember 1991, das sogenannte Beloschowskij-Abkommen) nicht die Gründung der GUS bedeutete, sondern nur erklärte, daß die UdSSR als geographischer Begriff wie als Staat aufgehört hatte zu existieren.

Auch sollte man "Russkaja krasavica" nicht mit "Moskauer Schönheit" übersetzen, sondern dabei bleiben, daß es sich um eine "Russische Schönheit" handelt. Doch solche Kleinigkeiten schleichen sich bei jedem Autor ein, und wir wollen der Autorin zugute halten, daß sie dies als Slawistin einfach bei der Korrektur übersehen hat. Insgesamt ändern diese kritischen Einlassungen aber nichts daran, daß wir es hier mit einem hochinformativen und lesenswerten Buch zu tun haben.

 

Tanja Wagensohn: Rußland nach dem Ende der Sowjetunion. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2001, 264 Seiten, Abb., 49,80 Mark

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau


 
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