© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Der kurze Weg zum Mord
Der Ex-Kommunist Gerd Koenen blickt ohne Nostalgie auf das rote Jahrzehnt zurück
Werner Olles

Daß die Vergangenheitsbewältigung zum beliebtesten Hobby deutscher Intellektueller gehört, ist bekannt. Wenn es jedoch um die bittere Gesinnungsgeschichte von "achtundsechzig" geht, ducken sich die meisten weg oder lassen durchblicken, daß sie immer noch ihre liebe Mühe und Not haben, die damals eingeübten Prämissen von einer kritisch-distanzierten Warte aus zu betrachten. Rühmliche Ausnahmen von dieser Regel waren 1997 Frank Böckelmanns "Begriffe versenken" und die ein Jahr später erschienene, von Claus-M. Wolfschlag herausgegebene Anthologie "Bye-bye 68".

Gleichwohl ist Gerd Koenens umfang- und kenntnisreiches Buch "Das rote Jahrzehnt" in gewisser Weise ein Novum, nicht nur weil der Verfasser in jenen Jahren selbst zu den Handelnden gehörte, sondern weil es zur Historisierung dieser Epoche beiträgt und damit die Schutzwälle des Biographischen niederreißt. Vor allem aber gehört der Autor nicht zu jener Sorte orientalischer Märchenerzähler von Joschka Fischer bis Joscha Schmierer und von Udo Knapp über K.-D. Wolff bis zu Daniel Cohn-Bendit, die ihren zumeist ahnungslosen Zuhörern und Lesern schmerzfrei und völlig schamlos immer die gleichen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht auftischen, völlig realitätsferne, stilisierte und geschönte Schilderungen einer Epoche, die nun wahrlich nicht zu den Glanzlichtern der deutschen Zeitgeschichte gehört.

Koenen, 1944 in Marburg geboren, studierte in Tübingen und Frankfurt Geschichte und Politik und kam 1967 zum SDS, dessen Seminarmarxismus zu dieser Zeit gerade zugunsten eines aktionistisch-aktivistischen Linksradikalismus mit antiautoritären Vorzeichen eliminiert wurde. Die Kontroverse um das Verhältnis von Kritischer Theorie und radikaler Praxis war von den SDS-Führern im Sinne der letzteren entschieden worden.

Koenen hat dieses kollektive Delirium voll ausgekostet. Im 1973 gegründeten "Kommunistischen Bund Westdeutschland" (KBW) spielte er als Redakteur der Kommunistischen Volkszeitung (KVZ) und als örtlicher Führungskader eine wichtige Rolle, geriet aber von Anfang an unter den Verdacht des "Rechtsabweichlertums", weil er inmitten dieses Ozeans aus sektenhafter Paranoia, politischem Irrationalismus und purem Blödsinn – "Schule des virtuellen Totalitarismus" lautet dafür die ziemlich treffende Definition des Autors – zu jener Minderheit gehörte, die noch einigermaßen realistische Positionen vertrat. Gleichwohl hielt auch er bis zum bitteren Ende 1983 durch.

Koenens kritische Distanz zum damaligen Geschehen ist teilweise verblüffend. In einem bilanzierenden Rückblick erklärt und behandelt er nicht nur die Erlebniswelt jener "phantasmagorischen Internationale der Jugend", die "auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt" in einer tendenziell längst liberalisierten Gesellschaft weit offene Türen einrannte und diese Sandkastenspielchen auch noch als "antikapitalistischen und antiimperialistischen Kampf" ausgab. Der Autor sieht das durchaus nicht nostalgisch, wie etwa die genannten Kombattanten, sondern kritisiert die damaligen Fehlurteile, die auch die seinen waren. Koenen kam früher als manch anderer zu dem Schluß, daß ein appellativ-symbolisierender Aktionismus zwar die Herausbildung von politischem Fanatismus fördert, letztlich aber immer in den individuellen Terror eines wütenden Moralismus mündet.

Zustimmen kann man ihm auch, wenn er in den Halbstarken der fünfziger und frühen sechziger Jahre die "eigentlichen Pioniere des Aufbruchs aus den Bigotterien der Nachkriegsjahre" sieht. Die kulturrevolutionäre "Neue Linke", deren "Partisanengestus" er korrekt als "ein Stück phantastisch nachgeholter Weltkriegserfahrung" beschreibt, konnte hingegen ihren Knick in der historischen Optik spätestens dann nicht mehr verleugnen, als während der – euphemistisch "Osterunruhen" genannten – mehrtägigen Angriffe auf die Druck- und Verlagshäuser des Springerkonzerns ein Student und ein Bildreporter durch Steinwürfe von Demonstranten ums Leben kamen. Besonders Horst Mahler kreidet Koenen an, diese Gewaltakte mit "Verkehrsunfällen" verglichen zu haben. Tatsächlich hatte Mahler von "Unglücksfällen" gesprochen. Diesem "kalten Zynismus" (Koenen) waren aber damals alle Führer der Bewegung verfallen. So erklärte zum Beispiel Frank Wolff, der zweite Vorsitzende des SDS, man dürfe angesichts der beiden Toten jetzt "auch nicht rührselig werden".

Am Beispiel Mahlers konzediert Koenen der "Neuen Rechten", daß sich hier "mittlerweile ein beachtliches, nicht unrepräsentatives Segement ehemaliger Aktivisten der Neuen Linken versammelt." Zwar wirft er ihnen vor, "mit großer Geste in sich gegangen zu sein, nur um sich als Konvertiten zu entpuppen – sei es zum wahren Islam, zum ingrimmigen Nationalkonservatismus oder zum intellektuell aufgeputzten Neonazismus", um damit " unter anderen Vorzeichen fortzusetzen, womit sie so ostentativ gebrochen haben. Damit geben sie, wenn auch auf unterschiedliche Weise, eine Ahnung von der Leerstelle, die der Verlust der einstigen Macht- und Größenphantasien in ihrer Psyche oder Biographie hinterlassen hat." Eine nicht uninteressante Theorie, aber Vorsicht ist dennoch geboten, wenn Historiker auch noch zu psychologisieren beginnen. Die Frage, "ob diese politischen Konversionen nicht tatsächlich etwas von den verborgenen Unterströmumgen und tiefen Ambivalenzendes generationellen Radikalismus der sechziger und siebziger Jahre verraten", bedarf jedoch in der Tat dringend einer Analyse.

"Das schattenhafte alter ego der Neuen Linken" nennt Koenen die Neue Rechte. Das allerdings hatte Günter Bartsch schon vor 26 Jahren beobachtet, als er beschrieb, wie durch die Tür, die die Neue Linke mit einem Paukenschlag aufgebrochen hatte, "lautlos wie auf Katzenpfoten noch eine zweite Erscheinung trat: Die Neue Rechte" ("Revolution von rechts", Freiburg 1975).

Andererseits sollte man das auch nicht überbewerten, weil es einem sonst den Blick auf die vielen positiven Anteile des Buches verstellen könnte. Allein die Beschreibungen der diversen K-Gruppen inklusive des Revolutionstourismus der verschiedenen KPD/MLs nach und in Albanien lohnen bereits die Lektüre. Und Koenen ist auch der erste, der die prä-terroristischen "Roten Panther", die blauäugigen FAZ-Redakteuren von ihrem ehemaligen "informellen Führer und spiritus rector" K.-D.Wolff gerne als harmlose "Lehrlingsorganisation" geschildert werden, korrekt zwischen "Sponti und ML, Drogen- und Rotlichtmilieu und Cliquen jugendlicher Outdrops" ansiedelt. Von den "Roten Panthern" Johannes Weinrich, Brigitte Kuhl-mann und Winfried Böse war es dann auch kein weiter Weg mehr zu den Revolutionären Zellen, zu der Entführung einer Passagiermaschine der Air-France nach Entebbe, wo Kuhlmann unter dem Pseudonym "Halimeh" ("die Sanfte") bei der Aufstellung zur Selektion jüdischen Passagieren die Kipa vom Kopf schlug, und zum Massenmörder und bezahlten Killer "Carlos".

Daß die "Frankfurter" zumindest auch logistische Hilfestellung beim Anschlag des "Schwarzen September" auf die Olympiade in München 1972 leisteten – Koenen bezieht sich hier auf Hans-Joachim Kleins "Rückkehr in die Menschlichkeit", der dort angibt, Böse habe ihm dies in einer schwachen Stunde gestanden – war für Kenner der Szene zwar schon immer ein offenes Geheimnis. Zumal zumindest einer der palästinensichen Hintermänner des Attentats, der heute übrigens eine der wichtigen Funktionen in Arafats Autonomiebehörde ausübt, seit 1969 ein gerngesehener Gast bei einschlägigen linksextremistischen Gruppen war, aber gleichzeitig auch beste Kontakte zu militanten rechtsextremistischen Kreisen unterhielt. Offenbar stammte sogar die Idee zu dem Anschlag von ihm. Näheres dazu ist bei E.W. Pless – das ist das Pseudonym des ehemaligen Rechtsterroristen Willi Pohl – nachzulesen ("Geblendet", Zürich 1979), der zu den Vertrauten der "Schwarze September"-Führer Abu Ijad, Abu Daoud und Amin El-Hindi gehörte.

Der gewöhnlich gut informierte ehemalige Bundesnachrichtendienstler Klaus-Dieter Matschke ("Carlos-Komplize Weinrich", Frankfurt 1995) hält die Selbstbezichtigung der Carlos/Weinrich-Truppe im Zusammenhang mit dem Anschlag auf die Olympiade dagegen für Propagandalügen und reine Aufschneiderei, da die vorliegenden Dokumente aus Budapest und anderen östlichen Hauptstädten dafür keinerlei Anhaltspunkte hergeben würden. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist jedoch, daß bei dem Chaos der damaligen "Revolutionswirren" so manchem deutschen Unterstützer gar nicht bewußt war, daß er Aufträge für den "Schwarzen September" erledigte.

Einer ernsthaften Diskussion wert ist auch Koenens Thematisierung der "nationalrevolutionären" Impulse der 68er Protestbewegung, exemplarisch verkörpert in Rudi Dutschke und Bernd Rabehl. Während Bernward Vesper, Hans-Jürgen Krahl und Horst Mahler von der Alten Rechten kamen, wurden Michael Kühnen und Manfred Roeder nach eigenen Angaben von der APO politisiert. Der Aldo Moro-Entführer Valerio Morucci von den Brigate Rosse sah bei der RAF gar ein "deutsch-nationalistisches Gefühl mitspielen". All dies ist dem Autor Beweis genug für eine "Parallelität vieler zugrundeliegender Motive und Anstöße" und für einen regen Austausch damals wie heute.

Liest man "Das rote Jahrzehnt" in einem mythenzerstörenden Kontext, wird selbst dem flüchtigen Leser manches klarer. Er wird die illegitimen Ableger des Marxismus als hemmungslose Traumtänzer und gespenstische Dogmatiker erleben. Leider war den meisten diese Selbsterkenntnis damals nicht gegönnt.

 

Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2001. 553 Seiten, geb., 49,80 Mark


 
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