© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Richtlinien
Karl Heinzen

Wenn man davon ausgeht, daß die herrschenden Ideen doch die Ideen der Herrschenden sein müßten, könnte dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) vorgeworfen werden, daß er, zumindest was sein Immigrationsanliegen betrifft, eine schlechte Arbeit geleistet hat: 450.000 Zuwanderer sollten eigentlich pro Jahr der Bundesrepublik Deutschland zufließen, um dem Reichtum der Reichen eine Zuwachsrate zu bescheren, der es ihnen im internationalen Vergleich erlaubte, patriotisch zu bleiben. Gerade einmal 40.000 möchte die allenfalls aus Verantwortungsethik die Xenophobie nicht ganz außer acht lassende Süssmuth-Kommission der Regierungskoalition derzeit aber nur diskutieren.

Wie will man hier noch zusammenkommen? Die Sorge um die Konsensfähigkeit unserer Gesellschaft ist verständlich, aber letztlich unbegründet. Das solide Fundament, auf das die Bundesrepublik Deutschland gebaut ist, läßt grundlegende Zerwürfnisse nicht zu. Die Menschen, denen sie als Ge-meinwesen zugedacht ist, haben aber in der Regel in ihrer Mehrheit unzutreffende Erwartungen hinsichtlich dessen Entwicklung, da sie diese als durch ihren Willen beeinflußbar annehmen. Das ist zugegebenerweise ein kleiner Schönheitsfehler in unserer an einem gesundem Sinn für das richtige Maß an Fremdbestimmung sonst gewiß nicht armen Ordnung, aber er ist verkraftbar angesichts des Wohlbefindens, das er erlaubt. Vor allem jedoch ist er leicht zu kompensieren, wenn man die Öffentlichkeit behutsam an die Wahrnehmung und Akzeptanz notwendiger Weichenstellungen heranführt.

Gerade die Einwanderungspolitik ist ein Feld, in dem hier, allen gelegentlich aufflackernden Befürchtungen über die Resistenz destruktiver Einstellungsmuster zum Trotz, Vorbildliches geleistet wurde. Aus ungebetenen Gästen, die man allenfalls erschrocken bestaunte, weil sie die Zumutungen der Arbeitgeber so würdelos hinnahmen, wurden Freunde, die dafür sorgen, daß in unseren Altersheimen auch in Zukunft nie das Licht ausgeht. Es mag sein, daß das Bild, das sich unsere Gesellschaft von ihren Immigranten macht, ein bißchen naiver geworden ist – humaner ist es auf jeden Fall. Möglich wurde dieser Wandel, weil die Politik in der Durchsetzung der von ihr wahrgenommenen Interessen gegenüber den Menschen nicht in erster Linie auf Konfrontation gesetzt hat. Es war zwar sicherlich wichtig, erkennen zu geben, wie weit der Bürger in seiner Meinungsfindung gehen darf, und in der Bemessung dieses Spielraums nicht zu großzügig zu sein. Vor allem aber war die Politik bereit, um der Verantwortung für die Menschen willen diese lieber zu täuschen, als sie vor den Kopf zu stoßen. Es gibt keine Veranlassung für die Regierung Schröder, diesen Kurs nun zu verlassen und in einen irrationalen Wahrheitsfundamentalismus zu verfallen. Das Vorpreschen des BDI ist gleichwohl legitim: Nicht er muß die Richtlinien der Politik verheimlichen.


 
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