© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001

 
Der Traum von der "Republica del Norte"
USA: Der Einwanderungsdruck aus Lateinamerika verändert das mächtigste Land der Welt
Anne Scholz

Zum Jahreswechsel 1999/2000 verkündete die US-Presse, daß der weiße nicht-hispanische Bevölkerungsteil in Kalifornien zum ersten Mal seit rund 150 Jahren in die Minderheit geraten sei. Der Südwesten der USA erlebt seit Jahren eine ungeheure kulturelle Veränderung – die demographischen Mehrheitsverhältnisse der Grenzstaaten kippen wie Dominosteine.

Was passiert bei negativen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwischen den ethnischen Gruppen? Waren die Unruhen zur Zeit der wirtschaftlichen Krise 1991 mit Rassenunruhen in Miami und Los Angeles und gut 100 Toten nur eine tragischer und schaler Vorläufer kommender Unruhen? Die Rassenunruhen von Cincinnati im vergangenen April zeigten die innere Zerrissenheit des multikulturellen "Schmelztiegels": Hubschrauber und schwer bewaffnete Polizisten überwachten nach dreitägigen schweren Ausschreitungen die Einhaltung eines nächtlichen Ausgehverbots. Nur Bewohner, die auf dem Weg zur oder von der Arbeit waren, durften sich zwischen 20 Uhr und sechs Uhr auf den Straßen sehen lassen. Und dabei spricht man im nördlichen US-Bundesstaat Ohio fast ausschließlich englisch – eine sprachliche Fragmentierung existiert (noch) nicht.

Der heutige Südwesten der USA war nach der Eroberung Mexikos durch die Spanier durch eine spanisch-indianische Mischkultur geprägt. Der demographische, militärische und politische Druck der nord- und mitteleuropäischen Einwanderer und der frühen USA nahm Mexiko Teile seiner Nordterritorien ab und brachte für rund 150 Jahre die angelsächsische Kultur als dominierenden Faktor zurück. Dann fand über Jahrzehnte eine von beiden Seiten weitgehend tolerierte Migration aufgrund des Wohlstandsgefälles und der Verwandtschaftsbeziehungen im Südwesten statt. Nicht nur divergieren in den USA die Geburtenraten zwischen Weißen, Schwarzen und Hispanics. Zusätzlich überqueren jährlich 600.000 bis 800.000 Mexikaner und andere Lateinamerikaner die 3.300 Kilometer lange und schlecht zu sichernde Grenze. Nur 20.000 legale Einwandervisa für Mexikaner gibt es pro Jahr.

In den USA waren auch die Illegalen insbesondere als Handlanger in der Landwirtschaft und als billige Dienstleister gefragt. Bei Stundenlöhnen von rund drei Dollar in den USA statt 50 Cent wie in Mexiko zog es sie auch in den Nordosten der USA, etwa zur Lebensmittel- und Textilindustrie. In "Sweatshops" wird 60 bis 80 Stunden in der Woche ohne Überstundenzulage geschuftet. Die geschwächten US-Gewerkschaften können dem "Lohndumping" keinen Einhalt gebieten. Die einzige Gegenwehr kommt von Seiten der Globalisierungsgegner. Während die europäische Presse von den Krawallen gegen die WTO-Tagung in Seattle noch berichtete, waren von der folgenden Großdemonstration mit rund einer Million Teilnehmern in Washington kaum mehr Meldungen zu finden.

Die USA versuchen durch verschiedene Gesetze auf die Einwanderungsentwicklung zu reagieren. Alleine aufgrund des 1986 verfügten Liberalisierungsbeschlusses (Immigration Reform and Control Act) erhielten 2,7 Millionen Indocumentados – zumeist Mexikaner – den Immigranten-Status. Nach der mexikanischen Wirtschaftskrise 1994 wurde der Wanderungsdruck auf die USA noch größer – nach dem Zensus 2000 wird die Zahl der illegalen Mexikaner auf fünf bis zehn Millionen geschätzt. Kalifornien gibt inzwischen ein halbe Milliarde Dollar für die freie Heilfürsorge für Illegale aus. Als besonderes Problem erweist sich, daß 60 Prozent der Zuwanderer keinen qualifizierten Schulabschluß haben und ihr Einkommen nur rund 60 Prozent des Durchschnitteinkommens der weißen Kalifornier ausmacht. Die Arbeitslosenquote der legalen Hispanics ist mehr als doppelt so hoch wie die der Weißen. Ein besonderer Druck Englisch zu lernen existiert nicht mehr, vielmehr hat sich die kulturelle Integrationsrichtung umgekehrt – Spanisch-Kurse sind ein Grundbaustein an den US-High-Schools, viele englischsprachige Kalifornier zieht es in den Norden des Staates oder gleich nach Seattle.

Die Reichen ziehen sich aus einem früher nicht vorhandenen Sicherheitsbedürfnis in Gated Communities zurück, in für die Öffentlichkeit geschlossene Wohnsiedlungen. Deren Zahl stieg seit 1964 von 500 auf inzwischen 19.000 im Jahr 2000 an. Knapp 10 Millionen US-Amerikaner wohnen in solchen "Vorstadtburgen".

Ein Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung Mexikos arbeitet in den USA, und die hohe Geburtenrate der katholischen Mexikaner kompensiert die Abwanderung daheim in kurzer Zeit. Aber ohne dieses Ventil wären die sozialen Probleme Mexikos deutlich ausgeprägter. Im Zusammenhang mit dem Aufbau der Nordamerikanischen Freihandelszone (Nafta) sollen seit 1990 die politischen Spannungen zwischen Mexiko und den USA abgebaut und die Wirtschaften noch enger miteinander zu verflochten werden. Ein wirtschaftlicher Aufschwung Mexikos könnte den Wanderungsdruck mildern. Doch die Migration läuft in weiten Bereichen nahezu automatisch ab, schon aufgrund des zeitlich versetzten Familiennachzuges.

Die Zuwanderung verändert das Bild der USA innerhalb von wenigen Jahren. Bis 2015 werden weitere 20 Millionen Zuwanderer aus Lateinamerika erwartet – der Anteil der spanischsprachigen Bevölkerungsgruppe in den USA wird auf 20 Prozent steigen. Diese werden dann die Gruppe der Afroamerikaner mit heute rund 13 Prozent bei weitem überflügelt haben. Nach seriösen Prognosen werden im Jahre 2050 die weißen englischsprachigen Amerikaner in der Minderheit und die Bevölkerung der USA von heute rund 270 auf 400 Millionen angewachsen sein.

Wasser auf die Mühlen der Befürworter einer verschärften Gangart gegen die Hispanic-Immigration kommt aus Mexiko selber. Aus offiziellen mexikanischen Quellen kommen inzwischen kaum mehr versteckte Andeutungen, daß "Mexiko größer als seine Grenzen sei" (der damalige mexikanische Präsident Ernesto Zedillo 1997). Andere wollen im Rahmen der Nafta-Liberalisierung die Grenzen zu den USA am liebsten gänzlich öffnen. Auch George W. Bush teilte bei seinem Mexiko-Besuch den "optimistischen Gedanken der offenen Grenze". Eine "Reconquista" mit der "Republica del Norte" erscheint realistisch.

Von einem drohenden Bürgerkrieg zu reden trifft hingegen nicht zu: Am Rio Grande sind die Kulturunterschiede zwischen den protestantisch-angelsächsischen Weißen (W.A.S.P.) und den katholischen Hispanics nicht mit den ungleich schärferen Grenzlinien zwischen Moslems und Christen in Südosteuropa, dem Kaukasus und den Ballungszentren Mittel- und Westeuropas vergleichbar. Zum anderen hilft die rund zehnmal geringere Siedlungsdichte in den USA, Konflikte abzupuffern, und die Wirtschaftskraft der USA tut ein übriges.

Vieles deutet aber darauf hin, daß diese Entwicklungen der USA als "God’s own country" eine Veränderung ihrer politischen Grenzen bescheren wird. Die Medien sprechen nur in seltenen Fällen diese Entwicklung an. Und vor den Wahlen wird versprochen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, mehr Geldmittel und Material der US-Border-Patrol zur Verfügung zu stellen, um rechtskonservative Politiker wie Pat Buchanan nicht zu stark werden zu lassen. Doch die rauhe Wirklichkeit läßt diese Problematik aktueller denn je werden.


 
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