© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001

 
Pankraz,
Herr Kridwiß und die Papierkugel als Kunst

Martin Creed soll dieses Jahr den Turner-Preis, den begehrtesten Kunstpreis Großbritanniens, erhalten, und zwar für ein weißes Blatt DIN A4 Schreibmaschinenpapier, das er zu einer kleinen Kugel zusammengeknäult hat. Dies, schreibt kritisch der Daily Telegraph, sei "ein neuer Tiefpunkt der Geschmacksverrirrung". Letztes Mal hatte eine Künstlerin den Preis bekommen, die ihr ungemachtes Bett vor dem Büro der Jury abgeladen hatte.

Vom zerwühlten Bett zum zerknäulten Blatt – ist das wirklich eine Unterbietung? Der Symbolgehalt des Blattes ist schon einmal unbestreitbar reicher und interpretationsfähiger als der des Bettes. Ein Bett ist ein Bett ist ein Bett, auch wenn man es nächtlicherweile benutzt, befleckt und zerwühlt hat. Seine funktionalen Möglichkeiten sind schnell vorgestellt, seine metaphysischen Dimensionen gleich Null. Ein reines, weißes Blatt Papier hingegen birgt viele Versprechen. Es schreit danach, beschrieben oder bedruckt zu werden. Daß man es statt dessen vor der Zeit zerknäult hat, signalisiert Katastrophe, gebrochene Jugendblüte, Opfergang in Unschuld. Da wimmelt es geradezu von "Codes".

Und dabei ist das große Generalsymbol, das der Künstler erklärtermaßen im Sinn hatte, noch nicht einmal angesprochen. Er wollte mit der Zerknäulung sagen: "Wir brauchen dich nicht, du dummes Blatt Papier, wir vertrauen unsere Codes der virtuellen Welt elektronischer Datenspeicher an, von wo wir sie in Sekundenschnelle aus allen Winkeln der Welt abrufen können. Geh also zum Teufel, du dummes Blatt! Aus dir kann man nur noch eine kleine Kugel machen, die man, ping!, irgendwohin schnippt."

Mit einem Bett läßt sich viel weniger gut in der Gegend herumschnippen als mit einem Papierknäuel, die Operationalität des Papierknäuels ist höher. Kürzlich in Jena auf dem deutschen Kunsthistorikerkongreß, wo man sich sehr mit der Frage plagte, was denn nun eigentlich ein "Bild" sei und ob man den Begriff des "Bildes" nicht revolutionär erweitern müsse, da genügte es, daß man von der Empore herab einige Papierkügelchen ins Auditorium regnen ließ, um die "Überholtheit" der Veranstaltung zu demonstrieren und sich über sie lustig zu machen. Mit Betten wäre das nicht so leicht gegangen.

Leichtigkeit, Eleganz, schneller Spaß und schnelles Vergessen zeichnen das Kunstwerk namens "Leeres zerknäultes DIN A 4 Blatt" aus. Es gibt mit ihm keinen Schweiß- oder sonstigen Geruch, wie er leider allzu oft entsteht, wenn der bildende Künstler sich selbst oder seine Essensreste bzw. Exkremente als Kunstwerk ausstellt. Zusammengeknäulte Papierkügelchen haben fast keine "individuelle Handschrift". Das muß kein Nachteil, kann sogar ein Vorteil sein. Nicht zufällige Individualität, sondern die moderne Menschheit an sich und überhaupt, die "Menschheit am Ausgang der Gutenberg-Galaxis" (M. Creed) kommt in dem Papierkügelchen zum Vorschein.

"Muß man denn heute gar nichts mehr können, um einen Kunstpreis einzuheimsen?", fragt empört der Telegraph. Darauf fällt die Antwort leicht: "Können können" muß man nichts mehr, sofern damit handwerkliche Fähigkeiten des geduldigen Bildens und Realisierens gemeint sind; Maschinen, technische Prozessoren können dergleichen allemal besser. Worauf es ankommt, ist Einfällehaben und die Fähigkeit, seine Einfälle optimal zu vermarkten. Auch das ist schließlich ein Können.

Der bildende Künstler ist nur noch insofern "bildend", als er für Ein-Bildungen sorgt, nicht mehr für Ab-Bildungen. Er ist längst zum Wortkünstler geworden, dessen Überredungs-Akrobatik in den Köpfen des Publikums eine Art inneres Bild erzeugt, eine Kombination von Vorstellungen, die außerordentlich diffus, beliebig und unverbindlich sind.

Während Romanschreiber, Lyriker, Musiker oder auch Schauspieler und Tänzer ihr Publikum nach wie vor mit gut durchorganisierten Wortfolgen, Tonfolgen, Bewegungsfolgen fesseln und festlegen, liefert der zeitgenössische "bildende" Künstler lediglich optische Anker oder Leuchtbojen, z.B. leere, zerknäulte DIN A 4-Bögen, zu denen sich der Kunstkonsument die Hauptsache, das "eigentliche Bild", dazudenken muß.

Er bekommt dazu vom Künstler, vom Galeristen und von der Kunstkritik zusätzliche Gebrauchsanweisungen, aber ob er sich daran hält oder nicht, interessiert im Grunde niemand. Entscheidend ist allein, daß er die Angelegenheit, wie Herr Kridwiß in Thomas Manns Faustus-Roman sagen würde, für "scho’ enorm wischtisch" hält, daß er sie in den "Diskurs" einführt und dafür Geld auszugeben bereit ist. Die "bildende" Kunst wird, wie das Geld selbst, zum reinen Symbol für Gewinnmaximierung. Ihre Inhalte (und ob es sie überhaupt gibt) sind zutiefst gleichgültig.

Natürlich droht ein ähnliches Schicksal allen anderen Künsten auch, doch in denen bleiben die Widerstandskräfte virulent, weil sie – besonders Sprache und Musik – im wesentlichen aus sich selbst leben, in erster Linie sich selbst abbilden. Die bildende Kunst ging dagegen von Anfang an fast vollständig in ihrem äußeren Gegenstand auf, und genau das wurde ihr zum Verhängnis. Als die technisch-mechanischen Möglichkeiten der Abbildung siegten, wollte sie nach innen ausweichen, aber dort war nichts, was sich "ins Bild" bringen ließ, nur unsichtbares Wollen, Ichseinwollen, Funktionierenwollen, Verdienenwollen.

Das zum Papierkügelchen zusammengeknäulte leere DIN A 4-Blatt liefert für diesen traurigen Tatbestand ein treffendes Zeichen. Es ist in seiner Leere, Überflüssigkeit und Zerknittertheit tatsächlich so etwas wie das moderne Kunstwerk an sich. Man kann es nicht mehr durch Gags überbieten, man kann sich von ihm nur ab- und zurückwenden, vergangene Zeiten imaginierend, in denen das die Welt verdoppelnde Bild noch ein kostbares Gut war. Wer so imaginiert, der wird zur (liebenswürdigen) Töpferscheibe.


 
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