© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001


Nur ein Viertel wollte Premier Blair
Großbritannien: Unterhauswahlrecht schadet Liberaldemokraten, Grünen, Rechten und Regionalparteien
Michael Walker / Jörg Fischer

Die britischen Unterhauswahlen, die der "New Labour"-Partei von Premier Tony Blair mit 413 Sitzen (gegenüber 166 für die konservativen Tories und 52 für die Liberaldemokraten) einen klaren Sieg und eine zweite Regierungsperiode bescherten, bescheinigten zugleich der Tory-Opposition ihre Unfähigkeit, eine glaubwürdige Alternative auf die Beine zu stellen. So sah es auch William Hague, der die Tories in diese vernichtende Niederlage führte. Er trat sofort als Parteichef zurück, als ihr katastrophales Ausmaß bekannt wurde.

Zweimal Fast-Zweidrittel-Mehrheiten im Unterhaus hintereinander – was ist das Geheimnis dieses Erfolgs? Daß man mit 40,7 Prozent der abgegebenen Stimmen fast 63 Prozent der Parlamentssitzte bekommt, liegt am britischen Mehrheitswahlrecht. Um gewählt zu werden, reicht die relative Mehrheit in einem Wahlkreis: Dem Labour-Kandidaten Harold Best etwa reichten in Leeds 41,9 Prozent zum Sieg, die 29,6 Prozent für Adam Pritchard (Tory) und die 26,9 Prozent für David Hall-Matthews (LibDem) blieben bedeutungslos. Einen "Ausgleich" über das Verhältniswahlrecht wie in Deutschland oder teilweise in Italien gibt es nicht. Auch ein zweiter Wahlgang wie in Frankreich ist nicht vorgesehen. So ist aus kontinentaleuropäischer Sicht sogar verständlich, warum nur 59,4 Prozent der Briten zur Urne gingen. Gerade mal 24,2 Prozent der Wahlberechtigten votiertenwirklich für die alte und neue Regierungspartei – das sind "amerikanische Verhältnisse"! Die insgesamt 31,7 Prozent Tory-Stimmen brachten 25,2 Prozent der Unterhaussitze, die Liberaldemokraten (LibDems) bekamen für 18,3 Prozent Stimmanteil nur 7,9 Prozent der Sitze! Alternative Parteien wie etwa die Grünen haben daher keinerlei Chance. Ihre 0,6 Prozent sind so dem Umstand geschuldet, daß den Briten realistischerweise nur bleibt, für "das kleinere Übel" zu stimmen. Auch die Europa-Gegner der UK Independence Party hätten landesweit bei einem Mehrheitswahlrecht wohl wesentlich mehr als 1,5 Prozent erhalten.

Die Wiederwahl der Labour-Partei, so der inzwischen parteilose Londoner Oberbürgermeister Ken Livingstone im Observer, bedeute "weniger eine zweite Amtsperiode als eine zweite Chance. Der Regierung hat nun erneut die Gelegenheit, erhebliche Verbesserungen an den öffentlichen Einrichtungen vorzunehmen. Der größte Fehler, den Labour jetzt machen könnte, wäre, der eigenen Propaganda auf den Leim zu gehen und die geringste Wahlbeteiligung seit 1918 zu ignorieren." Da ist dem Ex-Labour-Linksaußen ausdrücklich zuzustimmen. Die Zeiten, in denen die Unterhauswahlen zu 95 Prozent vorausberechenbar waren, die beiden großen Parteien sich auf die Unterstützung von Millionen Wählern verlassen konnten und nur ein geringer Unsicherheitsfaktor durch sogenannte "marginale" Wahlkreise entstand, scheinen vorüber. Zu den Überraschungsergebnissen gehörte diesmal der Einzug Richard Taylors ins Unterhaus. Taylor kandidierte im Wahlkreis Wyre Forest für die kleinste im neuen Parlament vertretene Partei, die zugleich den längsten Namen trägt: Die "Kidderminster Hospital and Health Concern Party" hatte sich als einziges Wahlziel auf die Fahnen geschrieben, das örtliche Krankenhaus vor der Schließung zu retten. Daß er damit siegreich war, zeigt, wie wichtig den Wählern die Erhaltung des staatlichen Gesundheitswesens ist. In Oldham West/Royton wiederum konnte Nick Griffin, Chef der rechten British National Party (BNP) nach den jüngsten Rassenunruhen mit 16,4 Prozent Platz drei erreichen. Der unbekannte BNP-Kandidat Mick Treacy, ein örtlicher Taxifahrer, bekam im Nachbarwahlkreis immerhin 11,2 Prozent. Obwohl die BNP nur in wenigen Wahlkreisen antrat, votierten insgesamt 47.185 Briten gegen die "EU, Asylgewährung und Einwanderung" und für "British Identity, Law&Order" und "Family values" (BNP-Wahlprogramm).

Zu Tony Blairs 24-Prozent-Sieg haben auch die Medien entscheidend beigetragen. Lediglich der Daily Telegraph und die Daily Mail sind den Tories treu geblieben. Doch die Unterstützung durch das populistische Massenblatt Sun, das der EU und dem Euro – gelinde gesagt – skeptisch gegenübersteht, die Wiedereinführung der Todesstrafe befürwortet und sich weder der alten noch der neuen Gestalt der Labour-Partei in irgendeiner Weise ideologisch verpflichtet fühlt, kann sich in vier Jahren schon wieder in Gegnerschaft verwandelt haben.

Blair hat als Medienstar einen Prozeß beschleunigt, der sich sonst wohl nicht so schnell vollzogen hätte: An die Stelle der Parteisoldaten von früher sind "Volkspolitiker" getreten: Männer und Frauen, die nicht länger nach ihren politischen Ansprüchen beurteilt werden, sondern nach den Ergebnissen, die sie erzielen. In der Vergangenheit maß man Labour an der Ideologie einer Arbeiterpartei; heute zählen Erfolge einerseits und Regierungsstil andererseits. Blair hat es immer wieder geschickt vermieden, sich als Gegner einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe auszuweisen. Er will den "Konservatismus"ebenso bekämpfen wie "Vorurteile", "Kriminalität" und "Rassismus", ohne auch nur einen einzigen Namen zu nennen. Ganz offensichtlich möchte er sich keine Feinde machen.

Dennoch ist die Liste von Blairs Gegnern lang. Angeführt wird sie von der eigenen Parteilinken, die Blair als "Verräter" ansieht. Aus der Opposition gegen ihn ist die Socialist Alliance entstanden – ehemalige Parteimitglieder, die New Labour den Rücken gekehrt haben und mit einer eigenen Liste bei den Wahlen antraten. Daß sie landesweit nur 0,3 Prozent erreichten, lag allein am Wahlsystem. Marxisten und Kommunisten haben so aber gelernt, daß sich New Labour nur von innen, nicht von außen umkrempeln läßt.

Viele "Normalbürger" hassen Tony Blair für seine Vogel-Strauß-Philosophie, die er gegenüber ihren alltäglichen Problemen an den Tag legt. Immerhin leben die Briten in einem Staat, in dem mehr Gewalttaten passieren als irgendwo sonst in Europa, dessen Gesundheitswesen kurz vor dem Zusammenbruch steht, über dessen öffentliche Verkehrsmittel die ganze Welt Witze reißt. Katastrophen wie BSE und Maul- und Klauenseuche haben Tausende von Bauern ruiniert, die der Regierung nicht so sehr ihr Versagen übelnehmen als vielmehr ihre Weigerung, die Ernsthaftigkeit der Probleme überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Die Traditionalisten im Lande wiederum lehnen Blairs Modernismus ab, wie er sich in der Reform des Oberhauses und der Dezentralisation ausdrückt. Die Errichtung eigenständiger Parlamente in Wales und Schottland wurde Labour an der Wahlurne diesmal noch gedankt: 43,9 Prozent der Schotten stimmten für Labour (56 Sitze), die Schottischen Nationalpartei (SNP) erreichte 20,1 Prozent (5 Sitze), LibDem 16,4 Prozent (10 Sitze) – die Tories entsenden nur einen Abgeordneten in Unterhaus (15,6 Prozent). Die Schottischen Sozialisten scheiterten mit 3,1 Prozent. Die Waliser bedankten sich mit 48,6 Prozent (plus elf Prozent!) bei Labour (34 Sitze), die nationale Plaid Cymru (14,3 Prozent) hat wieder nur vier Unterhausabgeordnete. Die Tories entsenden trotz 21 Prozent Stimmen keinen Waliser Abgeordneten ins Unterhaus.

Die einzige Wahlüberraschung lieferte Nordirland: Alle Vertreter der "moderaten" Mitte haben eine schwere Niederlage hinnehmen müssen. Die gemäßigt-britische Ulster Unionist Party (UUP) von David Trimble verlor vier ihrer zehn Sitze (26,8 Prozent, minus 5,9) und liegt nur mehr knapp vor der Democratic Unionist Party (DUP) von Reverend Ian Paisley (fünf Sitze, 22,5 Prozent, plus 8,9). First Minister Trimble selbst konnte nur mit Mühe seinen Sitz gegen den DUP-Herausforderer halten. Auf katholischer Seite gelang es der IRA-nahen Sinn Fein von Jerry Adams (21,7 Prozent, plus 5,6) mit vier Sitzen erstmals die moderaten Sozialdemokraten (SDLP) zu überflügeln. Doch die Sinn Fein-Sitze im Londoner Unterhaus bleiben wohl weiterhin leer, weil man sich weigert, den Eid auf die Queen abzulegen. Die SDLP von Friedensnobelpreisträger John Hume entsendet weiterhin nur drei Verteter (21 Prozent, minus 3,1). Die DUP sieht Blairs Nordirland-Politik als Verrat an und sperrt sich gegen Gespräche mit Sinn Fein vor der vollständigen Entwaffnung der IRA. Auch die Reform der nordirischen Polizei, ein äußerst problematischer Bereich im gesamten Friedensprozeß, könnte nun wieder fraglich werden.

Obwohl Frauenquoten nach dem medialen Gespött über "Blair‘s Babes" bei der Vorauswahl der Labour-Kandidaten diesmal keine Rolle spielten, sind im künftigen Unterhaus noch 117 (17,8 Prozent) der 659 Abgeordneten Frauen (vier weniger als 1997). In sein künftiges Kabinett berief Blair sieben Frauen, mehr als je zuvor in einer britischen Regierung. Schlüsselpositionen vergab er jedoch meist an männliche "Blairites", auf deren Loyalität er sich verlassen kann: Neuer Außenministerium ist Jack Straw, der sich über Europa eher abwehrend geäußert hat. Aber er ist ein Mann mit absoluter Loyalität zu Blair. Die Frauen werden es mit ihren neuen Aufgaben nicht leicht haben: Margaret Beckett, die bisherige Unterhaus-Ministerin, übernimmt das neue Ministerium für Umwelt und Landbevölkerung. Tessa Jowell wird zuständig für Großbritanniens Kultur.


 
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