© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Im Osten was Neues
EU-Erweiterung: Auch einige Beitrittskandidaten fürchten Facharbeitermangel / Wirtschaftswachstum unverändert hoch
Alexander Barti

Im letzten Monat hat die Arbeitslosenquote in Ungarn die Sechs-Prozent-Hürde – nach unten – durchbrochen. Sie liegt jetzt landesweit bei 5,8 Prozent, und obwohl es regionale Unterschiede gibt, zeichnet sich sogar ein neuer Mangel an ausgebildeten Fachkräften ab.

Diese Entwicklung ist auch deswegen bemerkenswert, weil Ungarn immer weniger ein Land der Hilfsarbeiter wird: In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Quote der Beschäftigten ohne Schulabschluß um 40 Prozent verringert, während die der qualifizierten Arbeitskräfte um 20 Prozent angestiegen ist. Ähnlich wie in Deutschland gibt es ein wirtschaftliches Ost-West- Gefälle. Der Westen profitiert von der Nähe zu Österreich, den guten Verkehrsanbindungen und natürlich auch von dem Balaton als touristische Goldgrube. In dem "goldenen Dreieck" zwischen der Audi-Stadt Raab (Györ), Budapest und Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) haben sich zahlreiche High-Tech-Firmen niedergelassen, die schon an den Universitäten die Absolventen zu ködern versuchen. Mit entsprechendem Unverständnis reagiert man im Lande, wenn man die mahnenden Worte des deutschen Kanzlers hört, der von einer Flut billiger Ostarbeiter nach der EU-Erweiterung warnt. Die besser Qualifizierten werden Ungarn auch als EU-Bürger kaum den Rücken kehren, das konnte man schon an der sehr mäßigen Reaktion auf die deutsche Green-Card-Initiative erkennen. Und für ungelernte Arbeiter wird auch der Westen immer unattraktiver, zumal es für die niederste Arbeit in Deutschland ein ganzes Heer von illegalen Einwanderern gibt. Mit deren Anspruchslosigkeit kann auch ein ungelernter Ungar nicht mithalten, für ein paar Euro Stundenlohn wird er sein gewohntes soziales Umfeld nicht verlassen. Diese Tendenz ist auch in der nationalen Dimension erkennbar, denn schon heute kann man selbst Fachkräfte schwer dazu bewegen, aus dem Osten des Landes in die westlichen Komitate oder nach Budapest zu ziehen. Die Reallöhne, die in den vergangenen Monaten deutlich zugelegt haben, und die stabil bei fünf Prozent liegende Konjunktur werden die Lust an der Mobilität noch weiter eindämmen.

Nach der überraschenden Erweiterung der Schwankungsbreite der Landeswährung Forint auf 15 Prozent plant die Regierung am 15. Juni einen weiteren Schritt zur Stärkung der monetären Grundlagen: Die Ungarische Nationalbank (MNB) will die Devisengesetze vollständig liberalisieren, der Forint wäre damit frei konvertierbar. Seit der Erweiterung hat der Forint im Verhältnis zur Mark zugelegt, was besonders die deutschen Plattensee-Touristen – pro Jahr immerhin drei Millionen – schmerzen wird.

Ähnliche Währungsprobleme zeigen sich in Polen, wo der an den Dollar gekoppelte Zloty gegenüber der Mark zulegt. Die Folge davon ist, daß die Deutschen immer weniger Geld jenseits der Oder ausgeben. Es lohnt sich daher vor allem für kleinere Betriebe immer weniger, in Polen produzieren zu lassen.

Schritt für Schritt wird auch das acquis communautaire – das ist der in 31 Kapitel gegliederte Rechtsbestand der Europäischen Union – von den Beitrittskandidaten übernommen. Die kleinen Länder wie zum Beispiel Slowenien oder Estland kommen mit der Angleichung gut voran. Polen, der mit 40 Millionen Einwohnern größte Markt, weiß um seine Bedeutung und verhandelt daher mit größerem Selbstbewußtsein. Aber der Druck wächst, denn mit jedem Kapitel, das die Konkurrenz abhaken kann, werden Präzedenzfälle geschaffen. Besonders das Kapitel über die Landwirtschaft bzw. der uneingeschränkte Landkauf ist im noch immer agrarisch geprägten Mitteleuropa ein heikles Thema. Während der Westen zum Beispiel ganz freundlich auf den ungarischen Musterschüler herab lächeln kann, steigt bei den Madjaren die Skepsis, denn immer mehr fürchten den Ausverkauf des Landes. In den westlichen Komitaten und am Balaton gibt es praktisch kein Dorf mehr, in dem nicht mindestens ein Deutscher oder Österreicher ein Häuschen gekauft hat. Denn der Immobilienkauf für Ausländer ist schon seit über zehn Jahren möglich, und von dieser Gelegenheit wurde auch fleißig Gebrauch gemacht. Dadurch sind die Preise so angestiegen, daß sie für ungarische Normalbürger nicht mehr erschwinglich sind – einerseits. Andererseits werden die ererbten Bauernhäuser bevorzugt an Ausländer verkauft, weil so selbst für baufällige Gemäuer hervorragende Preise erzielt werden können. Verschärft wird das Problem durch die auch in Ungarn vorhandene Landflucht der Jugend: Wer kann, sucht sich in den Städten eine Arbeit, denn freiwillig möchte niemand Landwirt werden. Als einzige Partei hat die Ungarische Wahrheitspartei (MIÉP) auf die Situation aufmerksam gemacht und konkrete Schritte gegen den Ausverkauf des Landes vorgeschlagen. Unter der Führung des Komitatsvorsitzenden von Zala, Gábor Papp, wurde eine "West-Ungarn-Region" gegründet, die sich besonders mit dem Kampf gegen die Immobilienspekulation von Ausländern beschäftigen soll. Man fürchtet besonders den Ausverkauf von landwirtschaftlichen Flächen, die bis jetzt nicht an Ausländer verkauft werden dürfen. Allerdings können die bestehenden Gesetze – übrigens in allen Reformstaaten – leicht ausgespielt werden, indem man frisierte Pachtverträge schließt oder ein Unternehmen gründet. Die bei den EU-Beitrittsverhandlungen jüngst vereinbarte Übergangsfrist von sieben Jahren für den Landkauf von anderen EU-Bürgern entpuppt sich also von Anfang an als zahnloser Tiger, denn wer unbedingt will, kann schon jetzt kräftig einkaufen. Auch Polen und Slowenien möchten lange Übergangsfristen für den Landkauf haben. Daß sich Polen mit der 18jährigen Übergangsfrist nicht durchsetzen wird, kann man als gesichert annehmen, zumal in Prag völlig überraschend die EU-Position zum Kapitel "Freier Kapitalverkehr" akzeptiert wurde. Hinter der unauffälligen Bezeichnung versteckt sich die Regelung über den Erwerb von Grund und Boden, der damit, nach einer kurzen Übergangsfrist, problemlos möglich sein wird.

In Slowenien lehnt man den Beitritt zur EU inzwischen mehrheitlich ab. Auch in Laibach (Ljubljana) wird die Vorstellung einer ungebremsten Arbeitermigration gen Westen zurückgewiesen: EU-Unterhändler Janez Potocnik erklärte unlängst inWien, die slowenische Bevölkerung sei überaltet und wenig mobil, so daß man nicht mit einer Penderlerwelle nach Österreich rechnen müsse. Außerdem läge die Arbeitslosenquote bei unter drei Prozent. In der Tat mehren sich die Anzeichen, daß die "reichen" Beitrittskandidaten zunehmend Migrationsziel der ganz Armen vom Balkan werden.

Das irische Veto gegen den Vertrag von Nizza am vergangenen Wochenende kam für alle Beteiligten überraschend, am Zeitplan der Osterweiterung soll aber nach Willen der Kommission festgehalten werden. Ob diese Brechstangen-Methode erfolgreich sein wird, kann man jetzt noch nicht abschätzen. Fest steht, daß die Beitrittskandidaten beim EU-Gipfel in Göteborg am kommenden Wochenende nicht mehr mit vagen Formulierungen abgespeist werden können, es sei denn, man will den EU-Frust weiter anfachen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen