© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/01 22. Juni 2001

 
Osterweiterung im deutschen Interesse
EU-Gipfel: Das Treffen der Regierungschefs wurde von Polit-Terror und dem irischen Nein zum Nizza-Vertrag überschattet
Bernd-Thomas Ramb

Ich wollte über die vielen angekündigten Seminare der EU-Gegnerschreiben. Ich habe mich wirklich auf diese gefreut," schrieb Jesper Bengtsson in seinem Leitartikel im schwedischen Aftonbadet. "Die gestrigen Auseinandersetzungen sind die schlimmsten, die ich je gesehen habe. Jetzt verstehe ich plötzlich, wie sich die Menschen in den dreißiger Jahren gefühlt haben müssen, als Hitlers Terroristen durch die Städte zogen." Auch wenn die gewalttätigen Ausschreitungen linksextremistischer Gruppen das Bild der schwedischen Tagung überdecken, der eigentliche Skandal liegt in der unüberwundenen Lähmung der EU in der Frage des Beitritts mittel- und osteuropäischer Staaten. Der Göteborger EU-Gipfel setzt die Misere um die EU-Erweiterung in dramatischer Weise fort. Das klare Nein der Iren zum Vertrag von Nizza als vernachlässigbare Panne anzusehen, gehört dabei ebenso zum Stil der heutigen Europapolitik wie die stillschweigende Duldung von Spaniens fast erpresserischen Forderungen zur Aufrechterhaltung der Strukturbeihilfen oder das Beharren Frankreichs sowohl auf die bestehende Form der EU-Agrarbeihilfen als auch auf seine Eigenständigkeit bei nationalen Sonderwegen innerhalb der EU.

Dabei drängt die Brisanz der seit über zehn Jahren anstehenden EU-Osterweiterung. Spätestens seit dem Kopenhagener EU-Gipfel im Jahre 1993 ist die Erweiterung der EU offizielle Politik. Aber erst 1997 sprach sich der Europäische Rat in Amsterdam dafür aus, die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen und die bereits länger zurückliegenden Beitrittsgesuche von zehn Bewerberländern – Ungarn und Polen (1994), Rumänien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen und Bulgarien (1995), Tschechische Republik und Slowenien (1996) – anzunehmen.

Der jetzt in Göteborg beschlossene Beitritt bis zum Jahr 2004, dem Jahr der nächsten Wahlen zum Europaparlament, würde im Falle der beiden ersten Beitrittskandidaten Polen und Ungarn die Wartezeit auf volle zehn Jahre runden. Aus der Sicht der Antragsländer ist der EU-Beitritt lebensnotwendig. Schließlich zählen sie zu dem ärmsten Staaten in Europa. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei etwa 30 Prozent des EU-Durchschnitts. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, wenn auch in Westeuropa höhere Werte zu verzeichnen sind.

So übersteigt die Arbeitslosenquote in Spanien mit 18,9 Prozent die von Bulgarien, das mit 16 Prozent osteuropäischer Spitzenreiter ist. Andererseits weisen die Aufnahmekandidaten Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien, Estland und auch Rumänien teilweise deutlich niedrigere Arbeitslosenquoten als Deutschland aus. Neben den wirtschaftlichen Aspekten spielen politische Erwartungen eine große Rolle. Die mittelosteuropäischen Staaten wollen dem unheilvollen Sozialismus endgültig entrinnen. Für die meisten steht und fällt diese Sicherheit mit einem Nato-Beitritt und eben einer steigenden wirtschaftlichen Stabilität. Dazu zählt aus ihrer Sicht sogar der Euro, obwohl die nationalen Währungen in den letzten Jahren teilweise das stabilere Geld bildeten. Allerdings werden auch die Risiken gesehen. Allen voran steht die Befürchtung, die durch die Befreiung vom Joch des internationalistischen Sozialismus gewonnene Freiheit und die nationale Souveränität wieder zu verlieren. Die vom deutschen Kanzler propagierte Einschränkung der Arbeitsmobilität wird von Polen zu Recht als schwerwiegende Diskreditierung angesehen.

Aus der Sicht der EU ist die Osterweiterung ein programmatisches Muß. Schließlich gehört es zu den originären Zielen, Europa politisch zu einigen, schon um den Frieden zu bewahren. Wenn auch der Gedanke des freien Verkehrs von Waren und Dienstleistungen in der EU mehr und mehr vernachlässigt wird, wirtschaftliche Aspekte spielen gerade in wachstumsschwachen Zeiten für Westeuropa eine bedeutende Rolle. Die Wachstumsmärkte aber liegen im Osten. Für Europa überwiegen somit eindeutig die Vorteile einer Osterweiterung, wenn auch für einige Teilnehmerstaaten mehr als für andere. Deutschland gehört dabei zu den größten Profiteuren. Schon der Blick auf die Landkarte zeigt, daß mit einem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten Deutschland aus einer Randlage der EU in eine zentrale Position gerät. Aus östlicher Sicht stellt Deutschland nicht nur das nächstliegende Handelsland dar, sondern auch das Tor zum Westen. Ähnliches gilt für Österreich und mit Abstrichen für Italien, Schweden und Finnland. Der künftige Vorteil Deutschlands und Österreichs weckt unweigerlich, wenn auch nicht immer offen geäußert, den Neid und damit den Widerstand der Verliererländer der EU. Westliche Randstaaten wie Irland und Portugal driften noch weiter aus dem Zentrum der Union.

Subventionsverwöhnte Länder wie Spanien, Irland, Portugal, aber auch Frankreich müssen künftig spürbare Einschnitte in den Transferleistungen hinnehmen, wenn die EU noch finanzierbar bleiben soll. Parallel zu den Subventionsreformen sind institutionelle Reformen, insbesondere die Reform der politischen Vertretungen unvermeidbar, deren erste Schritte in Nizza vollzogen wurden. Die sich jetzt noch formierenden Widerstände gegen die Osterweiterung können keinen längerfristigen Bestand haben, denn ohne den Osten wird es in Europa nicht vorangehen. Der damit verbundene Reformdruck aber kann der EU nur guttun. Eine weitere Verzögerung käme dagegen einer Bankrotterklärung gleich. Göteborg stellt somit auch eine besonders eindringliche Mahnung zur fundamentalen Überarbeitung der EU dar. Die skandalösen Straßenschlachten haben daran allerdings keinen Verdienst.


 
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