© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
"Wer unpopulär ist, schweigt"
Elisabeth Noelle-Neumann über die Schweigespirale und die Notwendigkeit nonkonformen Journalismus
Moritz Schwarz

Frau Professor Noelle-Neumann, Gregor Gysi scheint derzeit zum "Liebling der Massen" zu avancieren – die Witwe Robert Havemanns erinnerte erst gestern vergeblich an sein gemeinsames Spiel mit der SED. Ist diese verdrehte Darstellung Produkt der tendenziösen Medien, oder stellen die Medien nur die Unreflektiertheit der öffentlichen Meinung dar?

Noelle-Neumann: Gregor Gysi kann man als Polit-Clown bezeichnen. Witz, Charme, das begeistert die Menschen. Da braucht es keine weiteren Erklärungen, wie er zum "Liebling der Massen" geworden ist.

Wahlkämpfe werden mehr von der jeweils aktuellen Stimmungslage entschieden als von den Inhalten. Wie werden sich die Stimmungsfaktoren CDU-Finanzenskandal, Erinnerung an den 13. August und Beliebtheit Gregor Gysis in allen Lagern auf die kommenden Wahlen in der Hauptstadt auswirken?

Noelle-Neumann: Es ist nicht alles Stimmung. Es könnte sein, daß sich die Berliner nach Kompetenz, Sanierung sehnen. Das könnte sich zugunsten des jungen Frank Steffel auswirken.

Ist zu erwarten, daß sich bis zum voraussichtlichen Neuwahltermin im Oktober die derzeitige Stimmungslage unter den Berliner Wählern noch in relevantem Maße verändert?

Noelle-Neumann: Ich halte die Stimmung in Berlin für außerordentlich labil, die Berliner fürchten sich, die Spaßgesellschaft ist vorbei.

Sie sind die Begründerin der Meinungsforschung in Deutschland. Die Erhebungen des "Instituts für Demoskopie Allensbach" (IfD) dienen in erster Linie zur Information von Presse, Fernsehen und Hörfunk. In welchem Verhältnis steht Ihre Arbeit zum Journalismus?

Noelle-Neumann: Wie Sie vielleicht wissen, macht das Allensbacher Institut wenig Öffentlichkeitsarbeit, wir haben nicht einmal – von den Monaten vor Bundestagswahlen abgesehen – ein regelmäßiges Fernsehfenster. Das Allensbacher Institut wurde von Anfang an als Brücke konzipiert, um die neue wissenschaftliche Disziplin der Empirischen Sozialforschung in den Universitäten zu verankern. Jetzt, im April 2001, wurde von der Universität Konstanz eine C4-Professur mit Schwerpunkt Demoskopie ausgeschrieben . Wir sind also unserem Ziel schon sehr nah. Nach der Besetzung des Lehrstuhls werden wir auch als Laboratorium der Forschung und Lehre der Universität Konstanz arbeiten. Vergessen Sie aber auch nicht: Zu neunzig Prozent sind wir damit beschäftigt, das Allensbacher Institut durch Aufträge aufrecht zu erhalten – Auftragsforschung. Wir sind unabhängig, das ist sehr schön, bedeutet aber auch, daß wir von niemandem subventioniert werden.

Sehen Sie in Deutschland noch die ganze Bandbreite der Meinungen in einer lebendigen Presselandschaft widergespiegelt?

Noelle-Neumann: Der Journalismus ist dem Zeitgeist unterworfen. Der steht gegenwärtig links.

Schon vor Jahren haben Sie eine stetige Verschiebung des politisch-gesellschaftlichen Klimas in Deutschland nach links diagnostiziert. Wie weit ist dieser Prozeß gediehen, und was bedeutet das für bürgerliche Politik und Kultur in Deutschland?

Noelle-Neumann: Es könnte sein, daß es bald zu einem Umschlagpunkt kommt. Wir beobachten bei unseren Langzeitdiagnosen zum Wertewandel eine Zunahme bürgerlicher Werte.

Die freie Presse ist immer wieder Angriffen ausgesetzt, angefangen von der "Spiegel"-Affäre 1962 bis hin zum Versuch der sozialen Isolierung – Stichwort Kontenkündigung – unliebsamer Presseerzeugnisse in diesen Tagen. Warum tun sich Politik und Gesellschaft oft so schwer damit, eine unbequeme Presse hinzunehmen?

Noelle-Neumann: Wir leben in einer ständigen Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts – man kann wirklich nur von "Turbulenzen" sprechen, zum Beispiel in der Frage: Was hat Vorrang, Priorität – Freiheit oder Gleichheit? Aber das ist ja gerade das Großartige an den westlichen Demokratien, daß solche Spannungen ausgetragen werden können.

Im Zuge der volkspädagogischen Beeinflussung der Bürger hin zu bestimmten "zivilgesellschaftlichen" politischen Zielen scheint ein Empfinden für die Notwendigkeit der neutralen journalistischen Freiheit und ihrer Funktion für Presse und Staat zunehmend verlorenzu- gehen. Ist das nicht eine schleichende Gefahr für die Demokratie?

Noelle-Neumann: Das Herrschen eines übermächtigen Zeitgeistes ist natürlich gefährlich für Medien, die gegen den Zeitgeist stehen. Im Zeitgeist dominiert augenblicklich die Sehnsucht nach Gleichheit. Aber hier gegen den Zeitgeist anzugehen, würdige ich als journalistische Leistung.

Im zweiten Golfkrieg 1991 war festzustellen, daß die Meinung der nordamerikanischen Öffentlichkeit sich stets in etwa entsprechend dem nächsten Schritt der US-Politik entwickelte. Besteht nicht zunehmend die Gefahr, daß die Presse zum Transmissionsriemen der Politik wird?

Noelle-Neumann: Nein. Ich sehe eher eine Gefahr in der peer orientation der Journalisten. Bekannt ist das Phänomen seit einer amerikanischen Pilotstudie aus den fünfziger Jahren von Warren Breed: "Social Control in the Newsroom". Aber daran läßt sich nichts ändern. In Wirklichkeit respektieren Journalisten nur andere Journalisten. Einmal sagte mir ein Journalist: "Ich habe schon manchmal fertige Artikel zerrissen, wenn ich herausfand, daß meine Kollegen die Sache ganz anders beurteilen."

Meinungsbildung scheint sich oftmals immer weniger von unten nach oben, und mehr und mehr von oben nach unten zu vollziehen. Wie unabhängig sind Journalismus und Meinungsbildung in Deutschland noch?

Noelle-Neumann: Es ist klar: wenn linke Politiker an der Regierung sind und der Zeitgeist links ist, dann werden entscheidende Stichworte von oben gegeben. Unter der Regierung Kohl war es natürlich umgekehrt.

Unterscheiden Sie zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung?

Noelle-Neumann: Ja. Veröffentlichte Meinung sind die Medien. Öffentliche Meinung ist soziale Kontrolle, ein unbarmherziger Druck, dem der Einzelne sich weitgehend fügt (Schweigespirale). Ich definiere öffentliche Meinung als "Meinungen im kontroversen Bereich, die man äußern kann, ohne sich zu isolieren". Die Isolationsfurcht des Menschen ist groß. Zugleich hält gerade die Isolationsfurcht des Menschen – die Angst, sich unbeliebt zu machen – die Gesellschaft zusammen. Ohne Isolationsfurcht der Menschen wäre Gesellschaft nicht möglich.

Ihre Erhebungen sollen öffentliche Meinung darstellen, bewegen sich aber im Kontext der veröffentlichten Meinung. Wo sehen Sie in diesem Spannungsfeld als IfD Ihre Position und Aufgabe?

Noelle-Neumann: Ich sehe drei Aufgaben für uns. Erstens: Wir sind Chronisten. Zweitens: Wir sind an der sogenannten "Agenda Setting Function" beteiligt, ein Begriff aus der Kommunikationsforschung. "Agenda Setting Funktion" bedeutet: Bestimmen, welche Themen "hochkommen", wichtig werden. Drittens: Wir sprechen Tabuthemen an, wir brechen Tabus.

Zwar liefert die Meinungsforschung lediglich Informationen. Besteht aber nicht auch hier die Gefahr der Manipulation?

Noelle-Neumann: Es wäre zu wünschen, daß diese Tatsache von Journalisten viel aufmerksamer beobachtet würde: Manipulation mit Hilfe von Demoskopie. Ich habe in dieser Sache in Zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf einen Prozeß gegen den Leiter von Forsa, Herrn Güllner, gewonnen. Ich hatte in einem Interview gesagt, daß Herr Güllner bei der Bundestagswahl 1994 Zahlen zur FDP veröffentlicht hatte, die eindeutig zu niedrig waren. Er hatte praktisch nur die Erststimme für die FDP ermittelt. Es ist bekannt, daß nach unserem Wahlrecht die Zweitstimmen darüber entscheiden, wieviel Sitze die Parteien im Parlament erhalten. Aber die Zweitstimmen für die FDP hatte Herr Güllner nicht einmal erhoben.

Umfragen bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern vermitteln ein schematisiertes Bild der Realität. Wer in der schematisierten Realität nicht auftaucht, den "gibt es auch nicht". Sie selbst haben das die "Schweigespirale" genannt?

Noelle-Neumann: Schweigespirale heißt: Aus Isolationsfurcht beobachten die Menschen ständig, welche Meinungen im kontroversen Bereich populär sind und welche unpopulär. Wenn sie entdecken, daß ihre eigene Meinung unpopulär ist, sprechen sie sie nicht im Kreis von Personen, die sie nicht genau kennen, aus, schweigen lieber. Sich so zu verhalten, gehört zur sozialen Natur des Menschen. Ich sehe den Menschen janusköpfig: seine individuelle Natur und seine soziale Natur. Diese soziale Natur ist notwendig, also sich nicht isolieren zu wollen, damit Gesellschaft möglich ist. Wenn jemand spürt, daß eine bestimmte Ansicht im kontroversen Bereich unpopulär ist oder unpopulär zu werden droht, verfällt er in Schweigen.

Darf es so etwas in einer freiheitlichen Demokratie überhaupt geben?

Noelle-Neumann: Die Schweigespirale verträgt sich sehr gut mit Demokratie: Glücklicherweise verträgt sich Demokratie mit der menschlichen Natur.

Das IfD hat nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg 1996 selbst zugegeben, die Vorhersagen bezüglich des Wahlerfolgs der Partei "Die Republikaner" abgeändert zu haben, um einem Auftrieb der Partei durch gute Prognosen keinen Vorschub zu leisten?

Noelle-Neumann: Das war eine bösartige Verdrehung einer von der taz kommenden Dame, die damals in Freiburg als Journalistin arbeitete. Meine Kollegin in der Geschäftsführung des Allensbacher Instituts, Dr. Renate Köcher, stand vor der Wahl, entweder die Stärke der Republikaner zur Zeit des Interviews bekanntzugeben oder den prognostischen Wert: wie sich die Stärke der Republikaner bis zur Wahl noch entwickeln würde. Vor dieser Entscheidung steht man immer, wenn man demoskopische Wahlberichterstattung macht. Sie hatte sich für den tatsächlichen, zur Zeit des Interviews gemessenen Republikaner-Wert entschieden. Sie versuchte, das der Journalistin am Telefon zu erklären. Die hat ihr leider in ihrem Bericht das Wort im Munde umgedreht.

Dasselbe Problem besteht bei der Presse. Denke man an Sebnitz. Stellt der Fall – und zwar nicht die Sensations-Lüge der "Bild"-Zeitung, sondern das selbstverständliche "darauf Einsteigen" der bürgerlichen Medien, weil es "so hätte sein können" – nicht einen Sündenfall dar, weil das volkspädagogische Realitätsschnittmuster offenbar wichtiger war als der wahre Verlauf der Dinge?

Noelle-Neumann: Ich finde, daß die gegenwärtigen Regelungen der Selbstkontrolle mit dem Presserat viel zu schwach sind. Selbstkontrolle funktioniert übrigens im allgemeinen nur, wenn sie institutionell verankert ist, wie zum Beispiel bei Juristen und Medizinern.

 

Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann: Gründerin und Leiterin des "Instituts für Demoskopie Allensbach" (IfD). Geboren 1916 in Berlin, studierte sie Geschichte, Philosophie, Zeitungswissenschaften und Amerikanistik in Deutschland und den USA. Ab 1940 war sie Redakteurin bei verschiedenen Zeitungen. 1947 gründete sie mit dem IfD das erste deutsche Meinungsforschungsinstitut. Von 1961 bis 1964 lehrte sie Publizistik an der Freien Universität Berlin. 1964 Berufung an die Universität Mainz, ab 1967 Aufbau des Instituts für Publizistik, dessen Direktorin sie bis 1983 war. Seit 1978 ist Frau Noelle-Neumann feste Mitarbeiterin der FAZ für Demoskopieanalysen. 1980 veröffentlichte sie ihr erfolgreichstes Buch "Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut". Seit 1988 leitet sie das Institut zusammen mit Renate Köcher.

 

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