© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/01 06. Juli 2001

 
Im Spinnennetz der erzwungenen Ordnung
Literatur: Vor dreißg Jahren starb der in Vergessenheit geratene niederschlesische Schriftsteller Horst Lange
Götz Kubitschek

Es gibt Menschen, die gelebt werden. Sie finden sich in Situationen wieder, in die sie aus einem seltsamen Mangel an Widerstandskraft geraten sind, obwohl ihnen zu jedem Zeitpunkt des Weges klar war, daß sie sich einem Abgrund nähern. Der Maßstab des Handelns ist von Ergebenheit in ein Schicksal bestimmt, das als vorgegeben angenommen wird. Solche Menschen stellen die Frage nach der Freiheit des Willens vor dem Hintergrund eines mächtigen göttlichen Spinnennetzes, in dem sie allenfalls als Beute noch eine gute Figur machen können.

Anfang September 1941 beteiligt sich der Gefreite Horst Lange in Siedlce / Polen an einer Schlägerei, in die er angetrunken geraten ist. Sein Zorn ist so groß, daß er eine Pistole auf die Gegner richtet. Zweimal drückt er ab, doch löst sich aufgrund einer Ladehemmung kein Schuß. Lange wird verhaftet und in die Bahnhofswache gesperrt. Er durchbricht die Holzwand und versteckt sich in einem Zug, der weiter zur Front rollen soll. Man spürt ihn noch vor der Abfahrt auf und stellt ihn für ein rasches Urteil einigen Hauptleuten zum Verhör vor. Ein Kriegsgericht scheint unausweichlich. Jedoch kennt einer der Offiziere die "Ulanenpatrouille", die 1940 als Langes zweiter Roman erschienen ist. Das Kriegsgericht wird abgebogen, Lange in die Strafkompanie des Spandauer Pionier-Bataillons 23 und damit an die Front versetzt.

Der Schriftsteller Horst Lange ist am 6. Juli 1971, vor dreißig Jahren, an einem Blutsturz gestorben. Er ist ein vergessener Autor, obwohl beispielsweise sein Hauptwerk "Schwarze Weide" (1937) begeisterte Besprechungen erhielt und als deutscher Roman europäischen Ranges bezeichnet wurde.

Die Anekdote von der Schlägerei in einem Etappenort des Rußlandfeldzugs veranschaulicht in zugespitzter Form Langes Charakter und sein Gegenhalten als Autor. Er ist eine jener seltsam schwachen Figuren, die wissentlich in ungünstige Situationen hineingezogen werden und keine Kraft finden, sich entweder auf gebahnten Wegen zu halten oder den Sumpf zu meistern. Langes Bücher sind voll von Scheiternden, Versinkenden, Hinweggeschwemmten – und sind als vollendete Werke gleichzeitig das Gegenteil: komplexe Ordnung, kunstvolle Form, Beweise einer bis an den Rand des Ertragbaren gehenden Kraftanstrengung. So schildert der Roman "Ulanenpatrouille" zwar die schleichende Auflösung soldatischer Disziplin, die ein junger Leutnant bei vollem Bewußtsein und unter ständiger Selbstreflexion an sich erfährt: Am Ende hat er für eine Liebesnacht seine Soldaten verlassen und erwacht in einen nüchternen Morgen hinein, als der Angriff des Gegners bereits über ihn hinwegrollt. Der Roman selbst aber ist in seiner kunstvollen Komposition und seiner bis ans Manieristische gehenden Sprache gerade das Gegenteil einer Auflösung. Zwar stirbt der Leutnant schlußendlich bei dem Versuch, das willenlose Sich-treiben-lassen durch einen gewagten Akt zum Guten zu zwingen, der Autor aber hat mit seinem Werk auf jeden Fall die Ordnung geschaffen, aus der sein Held gerutscht ist.

In seiner Haltlosigkeit und Verwirrtheit ist Horst Lange ein typischer Vertreter der "Jungen Generation", die den Ersten Weltkrieg als extreme Erschütterung erfahren hat, wobei ihr – im Gegensatz zur Frontgeneration – aufgrund des Alters ein tatkräftiges Gegenhalten nicht möglich war. Der Zusammenbruch der alten Ordnung konnte bloß erduldet werden. Die Grundkoordinaten für einen bedeutenden Teil dieser Generation sind neben einem unterschwelligen Sicherheitsbedürfnis deshalb vor allem Utopielosigkeit, Pragmatismus und Kulturpessimismus. Von hier führt eine direkte Entwicklungslinie in klassizistische, eine formale Strenge und Ordnung betonende Formen, wie sie in ganz Europa und vor allem auch in Deutschland gegen die "Auflösungskunst" der Avantgarde Ende der zwanziger Jahre entwickelt wurde. Diese Generationszugehörigkeit war Horst Lange bewußt, er hat sie mit Kollegen wie Günter Eich oder Martin Raschke geteilt.

Neben dieser allgemeinen Stimmung spielt die niederschlesische Herkunft für Lange eine wichtige Rolle. Horst Lange wurde 1904 in Liegnitz/Niederschlesien geboren, verbrachte dort Kindheit und Jugend und nahm in Berlin ein Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften auf. Erste Texte erschienen in den Zeitschriften Die Kolonne und Der Fischzug. Der Durchbruch gelang mit der "Schwarzen Weide". Seine Frau, die Lyrikerin Oda Schaefer, schreibt in einem Lebensbild über ihren Mann, es sei für ihn wie ein Zwang gewesen, "das niederzuschreiben und festzuhalten, was ihn aus Quellen, Sümpfen und Flüssen der niederschlesischen Landschaft insgeheim gespeist hatte". Bezeichnend ist, daß auch jüngste Fachbeiträge Langes Verortung zwischen Ost und West zur Grundlage einer Werkinterpretation nehmen, damit also die der Moderne so wichtige Emanzipation des Individuums von Herkunft und Landschaft aushöhlen. Östliche Duldungsfähigkeit und Passivität werden westlichem, vor allem preußischem Organisationswillen gegenübergestellt. Ebenso findet sich die Spannung zwischen dem katholischen Hang zum Dämonischen und Abseitigen, den Lange von polnischen Verwandten aufgenommen habe, und der protestantischen Nüchternheit seines Elternhauses und seines in preußischem Militärdienst stehenden Vaters.

Lange selbst hat Natur und Landschaft vor dem Hintergrund auseinanderfallender Ordnungen in Politik und Gesellschaft als das einzig Beständige bezeichnet. Den Ton der Bücher bestimmen die niederschlesische Melancholie, die Erdschwere des Gemüts, die Vergeblichkeit der klaren Formgebung angesichts der amorphen Wasserlandschaft. Dies alles begünstigt die Willenlosigkeit, Trunksucht und Selbstaufgabe der Figuren Langes, jedoch läuft alles bewußt und in der ausgefeilten Selbstreflexion modern, theoretisch sozusagen auf der Höhe der Zeit ab: Lange schrieb seine Landschaftsromane in Berlin, gebrochen aus der Sicht eines Wahlstädters, keinesfalls nostalgisch oder romantisierend.

Diese Grundierung verdeutlicht, warum Lange den abermaligen Machtwechsel innerhalb der Weimarer Republik Anfang 1933 nicht als revolutionäre Zäsur wahrnahmen. Sein künstlerisches Projekt läuft kontinuierlich über ein Datum hinweg, das sich erst nach und nach als entscheidende Wegmarke darstellte. Die Überwindung chaotischer Zustände wurde zunächst nicht selten begrüßt. Daß Langes Werk schlußendlich als kränklich, schwächelnd und als dem Aktivismus des jungen Reichs nicht angemessen bewertet wurde, verwundert nicht. Über die Verweigerung von Papierkontingenten wurden "Schwarze Weide" und "Ulanenpatrouille" indirekt verboten, jedoch konnten mit "Leuchtkugeln" drei Erzählungen aus dem Rußlandfeldzug erscheinen, die ebenfalls die Suche nach einer den Menschen haltenden Ordnung zum stillen Thema haben.

Lange war kein Widerständler. Seine Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg sind natürlich voller entlarvender Beobachtungen, vor allem auch aus den zerbombten Städten und dem grauen Alltag aus der Endphase des Kriegs. Versuche aber, Horst Lange als aktiven Inneren Emigranten zu lesen, erfassen nicht den Kern. Langes Thematik einer sozusagen theosophischen Ordnungssuche ist in tiefem Sinn unhistorisch. Zudem verhindert die eigene Unsicherheit absolute Wertungen, die notwendig wären, um über eine eindeutige Stellungnahme schließlich zum ausformulierten Widerstand zu gelangen.

Der schwerverwundete Horst Lange hat nach dem Krieg gemeinsam mit Oda Schaefer bei München gelebt. Im Gegensatz zu vielen Kollegen seiner Generation legte er keinen Wert auf den Anschluß an eine Gruppe 47 oder andere Projekte. Darin liegt ein Grund für seine Marginalisierung. In den achtziger Jahren legte Hohenrain in der Edition Maschke "Ulanenpatrouille" und "Leuchtkugeln" neu auf; erhältlich sind heute im Buchhandel nur noch die Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg.


 
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