© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/01 13. Juli 2001

 
Horch und Guck leben wieder auf
Justizpolitik: Die Novelle des G-10-Gesetzes richtet sich nicht nur gegen Kriminelle / Telefonüberwachung bei "politischem Verdacht"
Klaus Kunze

Heimlich, still und leise, wie es so ihre Art ist, hören Behörden und Dienste Telefonleitungen ab. Nicht heimlich, aber still und leise, wie es so ihre Art ist, versteckten unsere Politiker eine wenig beachtete Neuregelung im Bundesgesetzblatt: Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10-Gesetz) wurde am 27. Juni 2001 neu verkündet. Seit dem 28. Juni darf in politischen Verdachtsfällen praktisch unbegrenzt abgehört werden. Das Gesetz regelt nicht das Abhören zur Aufklärung von Straftaten nach der Strafprozeßordnung, das richterlich abgesegnet werden muß. Vielmehr erlaubt es neben der Verbrechensfolgung das Lauschen von Nachrichtendiensten wie Verfassungsschutz, BND und MAD ohne vorherige richterliche Kontrolle.

Nach Artikel 10 des Grundgesetzes ist das Post- und Fernmeldegeheimnis zwar "unverletzlich". Unter Juristen heißt das aber nicht "uneinschränkbar", und wesentliche Einschränkungen stehen im G 10-Gesetz. Zu ihnen gehören jetzt rechtsstaatlich höchst zweifelhafte Gummiparagraphen. Für Laienohren künstlich verklausuliert, bieten sie dem Praktiker ein Eldorado erlaubten Mithörens. Informationen aus solchen "Individualkontrollen" dürfen umfassend zur Extremismusbekämpfung eingesetzt werden, auch wenn letztlich kein Bezug zu einer Straftat besteht. Die Auswirkungen auf die Praxis des Verfassungsschutzes können nach Ansicht des Hamburger Regierungsdirektors Harald Wollweber nicht hoch genug veranschlagt werden: Dies werde "bezeichnenderweise nicht erläutert, ja nicht einmal besonders erwähnt. Das ist bedauerlich, zumal auch den Gesetzgeber das Gebot trifft, seine Intentionen transparent zu vermitteln".

Neu im G 10-Gesetz ist die Ausweitung des bisherigen Abhörens von gemeingefährlichen Kapitaldelikten wie Spionage und Terrorismus auf das Vergehen der "Volksverhetzung", das nach Paragraph 130 Strafgesetzbuch (StGB) nur mit derselben Höchststrafe von fünf Jahren geahndet werden kann wie ein einfacher Diebstahl. Um schwerste Verbrechen zu verhindern, durften Nachrichtendienste – legal und legitim – schon bisher abhören, wenn diese geplant wurden. Jetzt darf auch bei einer "Volksverhetzung" abgehört werden, die noch gar nicht begangen wurde, sondern befürchtet wird. Und hier liegt die politische Brisanz.

In den Verdacht, eine Volksverhetzung zu planen, gerät man heute nämlich sehr leicht. Was als volksverhetzend gilt, ist selbst für Juristen zum nicht vorhersagbaren Lotteriespiel geworden. Die neuen gesetzlichen Grundlagen für ein Abhören bestehen nicht in einem Gummiparagraphen, sondern in einer mehrgliedrigen Kette dehnbarer Gummibegriffe. Abgehört werden darf demnach beispielsweise, "wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß jemand plant, begeht oder begangen hat" (so § 3 G 10-Ges.), "(d)ie Menschenwürde anderer dadurch anzugreifen, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet" (§130 I. StGB). Gelauscht werden darf auch bei Verdacht auf die Planung, eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Völkermordhandlung in einer Weise zu leugnen oder zu verharmlosen, die den öffentlichen Frieden stören kann (§130 III StGB).

Wann rechtfertigen Tatsachen aus Sicht eines hauptamtlichen Oberverdachtschöpfers einen Verdacht? Da haben wir schöne Beispiele in der nachrichtendienstlichen Beobachtungspraxis des Verfassungsschutzes. Seine Ermächtigung beruht auf derselben gesetzlichen Formulierung "tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht". Was dabei praktisch und verwaltungsgerichtlich herauskommt, ist sattsam bekannt. So lesen Düsseldorfer Verfassungsschützer dienstlich diese Zeitung. Im Auftrag des Innenministers als ihres obersten Chefs und seinen mutmaßlichen parteipolitischen Interesse konform interpretieren sie solange um, bis sich die erwünschten "Anhaltspunkte für einen Verdacht" ergeben. Die Verwaltungsrichter zuckten die Achseln und meinten, niemand bezeichne die JF als verfassungsfeindlich, nur sei da eben ein Verdacht, und darum lasse das Gesetz die Beobachtung eben zu.

Genauso funktioniert seit dem 28. Juni 2001 das Abhören der "Verdacht": auf geplante Angriffe auf die Menschenwürde von Bevölkerungsteilen, auf geplante Verharmlosung der NS-Zeit und so fort. Niemand wird sich mehr sicher sein können, nicht abgehört zu werden. Es weiß nämlich niemand genau, wo das Damoklesschwert des Paragraph 130 StGB hängt. Dürfte eine kleine, christliche Partei unlängst noch schreiben, Homosexualität sei eine schwere Sünde und neurotische Perversion? Die Flugblätter waren monatelang beschlagnahmt, es wurden Wohnungen und Postämter durchsucht. Gerichte segneten die Durchsuchungen ab. Erst der Strafrichter beendete den Spuk und lehnte die Zulassung der Anklage nach Paragraph 130 StGB ab, weil Homosexuelle kein abgrenzbarer Teil der Bevölkerung sind. Doch künftig darf die Partei wohl abgehört werden: Bestehen nicht Anhaltspunkte für den erneuten Verdacht auf Volksverhetzung?

Ungeahnte Möglichkeiten bietet auch das Abhören mutmaßlicher zeitgeschichtlicher Dissidenten: Wer im Verdacht der geplanten Verharmlosung steht, darf nachrichtendienstlich belauscht werden. Eine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen und vom Verdacht reinzuwaschen, sieht das Gesetz leider nicht vor. Aber vielleicht läge darin auch nicht der wirkliche Nutzeffekt für Behörden, deren Einschätzungen überwiegend parteistrategische Vorgaben zugrunde liegen.


 
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