© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/01 13. Juli 2001

 
Eifrig Mission treiben und abwarten
Hans Peter Raddatz: Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft
Tilman Nagel

In der "Vormoderne" hatte sich alles Gegenwärtige vor der Vergangenheit zu rechtfertigen; in der "Moderne" muß es sich vor der Zukunft rechtfertigen. Dieses dem Historiker Reinhard Koselleck zugeschriebene Aperçu wäre dahingehend zu ergänzen, daß der Standardmensch der "Postmoderne" sich nur noch vor sich selber rechtfertigt oder vor dem, was er im gegebenen Augenblick für sein Selbst hält, mithin vor den wechselnden Moden und "Korrektheiten". Unter Zuhilfenahme des Schlagwortes der Globalisierung redet er sich überdies ein, daß alle Menschen auf dem Erdball es so herrlich weit gebracht haben wie er – oder zumindest bringen könnten, wenn sie nur wollten, und das Wollen werden die Zweifelnden und Störrischen, so hofft er, eher lernen müssen, als ihnen lieb ist.

Dies ist in karikierender Überspitzung die Quintessenz von dreihundert Jahren liberaler Fortschrittsgeschichte; der Islamwissenschaftler und Volkswirt Hans-Peter Raddatz konfrontiert diese Quintessenz in seinem Buch "Von Gott zu Allah" mit den Grundzügen des Selbstverständnisses der sowohl an Zahl als auch an Selbstbehauptungswillen starken muslimischen Minderheit in Europa, vor allem in Deutschland. Seine These lautet, daß der Glaube an den Mythos der Globalisierung dem mit eindrucksvollen Textzeugnissen belegten Dominanzstreben vieler hiesiger Muslime, die als Prediger, Imame oder als Funktionäre auf den unterschiedlichen Ebenen islamischer Interessenvereinigungen Verantwortung tragen, Vorschub leistet. Besonders dem christlich-islamischen Dialog widmet Raddatz seine Aufmerksamkeit, denn hier liegt die Nahtstelle, an der ein vielfach zu scheinbar individualistischer Allerweltsfrömmigkeit ausgelaugtes Christentum es mit dem Islam zu tun bekommt. Wie der Rezensent aus vielen Vortragsveranstaltungen weiß, bleibt das Interesse der christlichen Dialogfreunde an den Lehren des Islams in der Regel nur so lange wach, wie letztere als eine Bestätigung der eigenen Position, die man mit Wohlwollen als deistisch kennzeichnen mag, aufgefaßt werden können; rückt man zu einer genaueren Beschreibung der Heilsbotschaft des Korans und ihrer theologischen, anthropologischen und politischen Konsequenzen vor, erlahmt aller Eifer rasch, und es macht sich nicht selten Unmut über den Referenten breit.

Auch der Leser dieses Buches wird, sofern er in der eben angedeuteten Denkweise befangen ist, heftigen Unmut empfinden, wenn er sich mit den "Grundlagen des islamischen Systems" vertraut machen soll. Raddatz charakterisiert diese Grundlagen unter anderem wie folgt: "Umfassende Sakralisierung und Reglementierung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens unter geistig-politischer Rückbindung an die Allmacht Allahs und die Urgemeinde beschränken die autonome Handlungsfreiheit und offene, aktive Zukunftsgestaltung auf eine geschlossene, reaktive Gegenwartsgestaltung und kanalisieren die individuelle Glaubenserfahrung in geregelte Zugänge zur Spiritualität des Verkünders". In der Tat muß man das Bild, das in der islamischen Literatur bis auf den heutigen Tag von den Verhältnissen in der medinensischen Urgemeinde entworfen wird, in solchen oder ähnlichen Begriffen zusammenfassen, und daß dieses Bild für die Muslime eine Verpflichtung darstelle, ist nach wie vor die einhellige Ansicht der Bekenner des Islams. Bereits hieran wird deutlich, daß die eingangs erwähnte Einteilung der neueren Weltgeschichte nicht recht auf den Islam paßt; denn für ihn gilt, daß das Gegenwärtige sich im Hinblick auf eine Zukunft rechtfertigen muß, die in einem bestimmten Abschnitt der Vergangenheit schon einmal Wirklichkeit gewesen sein soll. Als unabweisbare Verpflichtung ist das "Medina-Modell" stets gegenwärtig und bildet zu dem postmodernen pseudo-individualistischen Ich-Wahn einen denkbar scharfen Gegensatz, denjenigen des Übergeschichtlichen zum Geschichtslosen.

Wie es zu diesen tiefgreifenden Unterschieden zwischen dem aus dem lateinischen Christentum hervorgegangenen modernen bzw. postmodernen Europa auf der einen Seite und der islamischen Welt auf der anderen gekommen ist, schildert Raddatz im ersten Teil des Buches. Der Spezialist für das eine oder andere Gebiet, das Raddatz zwangsläufig mit großen Schritten durchmessen mußte, wird finden, daß man diese oder jene Einzelheit anders gewichten könnte. Man muß dem Verfasser aber zugutehalten, daß trotz zahlloser "interkultureller" Symposien, trotz der Einrichtung von Studiengängen für "interkulturelle Didaktik" usw. eine wissenschaftlichen Standards genügende vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Westeuropas und der islamischen Welt noch fehlt. Raddatz kennt sich auf beiden Gebieten aus und hat dank seines islamwissenschaftlichen Studiums Zugang auch zum islamischen Schrifttum. Daher steht der Vergleich im ganzen auf einem soliden Fundament und sollte die Dialogfreunde beider Seiten zu weiterführenden Überlegungen anregen.

Wenn man freilich den zweiten Teil des Buches liest, "Liberale Moraldoktrin und Islamexpansion", dann mag man darauf kaum noch hoffen. Denn die Dialogfreunde wie überhaupt das europäische Geistesleben, soweit es sich öffentlichkeitswirksam vollzieht, verfallen, wie Raddatz im einzelnen darlegt, im Übergang von der "Moderne" zur "Postmoderne" einer "momentistischen Weltsicht"; immer kürzer wird die Zeitspanne, die der Mensch noch als den ihn angehenden Erfahrungsraum wahrnimmt und infolgedessen in stimmiger Weise im Dienste persönlicher und allgemeiner Belange zu gestalten bestrebt ist. Hier bringt Raddatz den christlichen Glauben ins Spiel, und zwar nicht in seiner Kümmerform. Christus will den Menschen von der Gesetzesfrömmigkeit befreien, ihn frei machen für die Gestaltung des Daseins nach Maßgabe des Zusammenwirkens von Glaube und Vernunft, ihn mithin erst eigentlich zu dem befähigen, was Adam laut Genesis 2, Vers 19 f. ermöglicht wurde: Die Schöpfung nach eigener Einsicht zu benennen und damit in eigener Verantwortlichkeit in Besitz zu nehmen. Die von Raddatz diagnostizierte Gegenwartsschrumpfung in der "Postmoderne" drängt die Last eigener Verantwortung in den Hintergrund, die Verantwortung reicht nicht mehr über die standardisierten momentanen Interessen hinaus. Wie Raddatz weiter ausführt, wurde im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils diese Bastion einer über den einzelnen Tag und den einzelnen Menschen hinausweisenden Verantwortlichkeit, wie sie im Christentum gründete, geschleift – zugunsten einer maßstablosen jedermann aufgetragenen Gottsuche, deren Ergebnisse individuell verschieden ausfallen und unverbindlich bleiben. Auf der Ebene des Dialogs zwischen den Religionen und Weltanschauungen wird dies als die Aufforderung zu uneingeschränkter Toleranz ausgelegt, wobei vergessen wird, daß jede Toleranz eine vorherige Auseinandersetzung mit den Standpunkten des Gegenübers voraussetzt, gerade auch mit solchen, die man befremdlich findet oder ablehnt. Daran aber mangelt es; denn eine möglicherweise gegebene Fremdheit des anderen wird gar nicht mehr in Betracht gezogen. Vielmehr werden, und damit kommen wir auf den Dialog mit dem Islam zurück, die eigenen – postmodernen – Ansichten in diejenigen des Gegenübers hineingespiegelt. So soll, um ein krasses Beispiel zu nennen, die Politik Mohammeds gegen die Juden von Medina ein Beleg für die dem Islam unterstellte Toleranz im Umgang mit Andersgläubigen sein! Die wesentlichen islamischen Geschichtsquellen, denen man die ganz anders gearteten Fakten entnehmen kann, liegen schon seit dem 19. Jahrhundert in deutscher Übersetzung vor.

In solcher Resistenz gegen gesicherte historische Fakten, die sich auch in wohlfeilen "Entschuldigungen" für komplexe Vorgänge wie die Kreuzzüge niederschlägt, bekundet sich ein Grundzug der momentistischen Weltsicht: die für das Nicht-Verstehen-Wollen in Anspruch genommene Moralität mit all ihrer Unduldsamkeit. Daß die aufmerksamen muslimischen Beobachter solcher intellektueller Spektakel keine Veranlassung sehen, eigene Überzeugungen um des Dialogs und der Teilhabe an der europäischen Zivilisation willen zur Disposition zu stellen, kann nicht verwundern. Sie treiben eifrig Mission – und warten ab. Wie wäre es, wenn die Dialogfreunde doch einmal innehielten und über sich selber und ihr Tun nachdächten? Dem Buch von Raddatz könnten sie wertvolle und fundierte Anregungen hierfür entnehmen!

 

Hans-Peter Raddatz: Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft. F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2001, 528 Seiten, 59 Mark

 

Prof. Dr. Tilmann Nagel lehrt seit 1981 Arabistik an der Universität Göttingen. Er publizierte unter anderem über "Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam" (1982) und über die "Geschichte der islamischen Theologie" (1994).


 
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