© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/01 13. Juli 2001

 
Die manipulierte Demokratie
von Ethel Grünwald

Nach dem Grundge-setz sind wir eine Demokratie. Theo-retisch ist dies auch unter allen politi-schen Gruppierungen unstreitig. Praktisch aber hat der Bürger in unserem Staat immer weniger zu sagen, wird er immer weniger nach seiner Meinung gefragt und haben die politischen Eliten längst aufgegeben, den Willen des Volkes zu erfüllen. Sie erfüllen dafür ihre eigenen Machtinteressen und die Interessen der hinter ihnen stehenden und die Politik steuernden Machtgruppen von Großkapital und Gewerkschaften. Letztere setzen ihren Willen in der Politik durch über die beiden gesellschaftlichen Gruppen der Arbeitnehmerverbände (Gewerkschaften) und der Verbände der Großwirtschaft. Sie steuern die politischen Entscheidungen statt der Bürger selbst und bestimmen auch darüber,

- was dem Bürger überhaupt zur Entscheidung vorgelegt wird,

- was besser ohne den Bürger politisch entschieden wird, um kein Risiko für das Ergebnis einzugehen,

- mit welchen unwichtigeren Themen statt dessen die Medien und die Parteien beschäftigt werden

- und was mit Hilfe der von den gleichen Machtgruppen gesteuerten Medien als "öffentliche Meinung" gilt "politisch korrekt" ist und von allen öffentlich geäußert oder – sogar bei Androhung von Strafen – nicht einmal gedacht werden darf.

Wir sind längst eine manipulierte Demokratie geworden. Wir werden letztlich von Großkapital und Gewerkschaften und von diesen mit Hilfe der Medien durch politische Parteien und Regierungen manipuliert, die nicht unsere Interessen zu vertreten haben, sondern die Interessen ihrer mächtigen Auftraggeber. Dies läßt sich an vielen Einzelheiten nachweisen:

Entgegen dem vom Grundgesetz garantierten "ewigen Demokratiegebot" hat die Kohl-Clique unter dem Beifall der übrigen Parteien die Souveränität des Staates und damit der Bevölkerung in allen wesentlichen Dingen nach Brüssel abgegeben. Inzwischen werden 80 Prozent unserer Lebensumstände von Brüssel geregelt. In Brüssel sitzen aber keine gewählten und vom Volke abhängigen Demokraten, sondern wie im kommunistischen Rätesystem Politkommissare und Politräte, die keinerlei demokratische Legitimation haben, sich auch keinem Parlement gegenüber verantworten müssen und die nicht mal bei nachgewiesener Korruption entfernt werden können. Praktisch ist also unsere nationale Demokratie an eine supranationale Rätediktatur abgegeben worden, bei der allenfalls noch die Regierungen in den Mitgliedsländern Mitwirkungsrechte haben.

2. Kanzler Kohl hat zwar die Zustimmung unseres Parlaments zu dem Abkommen von Edinburgh bekommen, wußte aber angeblich selbst nicht genau, was er da unterschrieben hatte, als er die deutschen Bürger verpflichtete, auf ewig zwei Drittel netto aller EU-Kosten und aller EU-Subventionen zu zahlen und damit ohne Krieg tributpflichtig für fast alle Staaten Europas zu werden. Da dies auch nur einstimmig mit den Stimmen der elf Nehmerländer änderbar wäre, ist es überhaupt nicht mehr korrigierbar, es sei denn, man stellt die ganze EU in Frage. Hätten die deutschen Bürger darüber abstimmen dürfen und hätten die Politiker die Bürger über diese nur für Deutschland belastendsten Zahlungsfolgen informiert, wäre eine so einseitige Zahlungsunterwerfung demokratisch nie durchsetzbar gewesen. Das internationale Großkapital will Globalisierung, internationale Freiheit und Ende der Währungsrisiken. Zu diesem Zweck wurde als Zwischenschritt zur Weltwährung die Europawährung vom europäischen Großkapital vorgegeben und der Euro gefordert. Dieser ist tatsächlich für die Exporte in Europa vor allem für Banken und Versicherungen eine bedeutende Risikoentlastung, dazu für die inflationsgeplagten europäischen Schwachländer vor allem des Mittelmeerraumes auch ein großer Stabilitätsvorteil. Weil aber die Eurobank nicht wirklich unabhängig ist, sondern die einzelnen Nationen ihre Finanzpolitik und damit auch ihre Inflationsbedürfnisse selbst weiter regeln dürfen, kann sich jeder Bürgermeister auf Sizilien statt mit weichen Lira nun mit zumindest anfangs noch harten Euro bedienen, bis alle dieses Spiel so übertreiben, daß die wachsende Euro-Geldmenge auch zu wachsender Euro-lnflation wird.

In allen anderen Ländern wurde darüber von den Bürgern abgestimmt und vor den Abstimmungen über die Einführung des Euro darauf hingewiesen, daß der Euro zwar ein Nachteil vor allem für die Deutschen, aber ein Vorteil für die Weichwährungsländer sei. Le Monde verkündete stolz: "Der Euro ist Versailles ohne Krieg".

Wären die Deutschen über diese Eurorisiken aufgeklärt worden und hätten sie darüber abstimmen dürfen, hätte es in Deutschland bis heute noch keine Mehrheit der Bürger und Wähler für diese weiche Eurowährung gegeben. Auf die Frage, warum die Deutschen als einzige Nation hierüber nicht hätten abstimmen dürfen, antwortete Kohl im Fernsehen frech: "Wo kommen wir hin, wenn die Bevölkerung über so wichtige Dinge selbst entscheiden soll?" Nur durch undemokratische Manipulation konnte der Währungswunsch von Banken und Konzernen durch die Politik erfüllt werden.

4. Banken, Versicherungen und Exportgroßwirtschaft wollen in die Märkte Osteuropas wachsen. Dies würde erleichtert, wenn eine Osterweiterung der EU die dafür notwendigen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen würde. Folglich hat das Großkapital die "Osterweiterung der EU" als angebliches Ziel aller Demokraten ausgegeben, obwohl darüber niemand befragt worden ist. Tatsächlich wird insbesondere Deutschland von einer Osterweiterung der EU erhebliche Nachteile haben:

Die Kosten der EU würden sich durch die Osterweiterung nach wissenschaftlichen Prognosen mehr als verdoppeln. Da die Deutschen immer zwei Drittel netto zu zahlen haben, würden wir wieder die Hauptlast dieser Mehrkosten zu tragen haben. Dies führt zwangsläufig zu Mehrkosten und Steuererhöhungen für die deutsche Bevölkerung, mit denen diese sicher demokratisch nicht einverstanden wäre. Durch Freizügigkeit mit Osteuropa wird eine neue Völkerwanderung vor allem nach Deutschland einsetzen, weil das Sozialeinkommen hier höher als das Arbeitseinkommen in Osteuropa ist. Die wissenschaftlichen Institute rechnen mit etwa einer Million jährlichen Zuwanderern nach Deutschland mit allen Folgen für unser Sozialsystem, für den Arbeitsmarkt und für die Gesellschaft. Auf Druck der Gewerkschaft hat deshalb sogar der Kanzler eine siebenjährige Übergangsfrist nur für diese Freizügigkeit verlangt, weil er die Reaktion der Wähler fürchtet. Ein größerer Nachteil als durch die Zuwanderung entsteht aber durch das Zusammenprallen des Höchstlohnlandes der Welt – Deutschland – mit Niedriglohnländern, die statt fünfzig bis siebzig Mark Bruttostundenlohn nur sechs bis zehn Mark haben. Sobald die Produktionen und Dienstleistungen mit solchen Lohnunterschieden zusammenprallen, sind Hochlohnbetriebe nicht mehr konkurrenzfähig. Die Mittelstandsökonomie rechnet deshalb mit mehr als 200.000 Betriebsschließungen in Ostdeutschland entlang einer 100-Kilometer-Grenze, weil die polnische und tschechische Konkurrenz praktisch halb so teuer liefern kann. Dies wird mehr als 1 Million Arbeitslose in den neuen Bundesländem bringen.

Dem unbestreitbaren Osterweiterungsvorteil der Konzerne stehen also ebenso unbestreitbare Existenzvernichtungen im Mittelstand gegenüber. Von dem Vorteil der Konzerne hat der Staat, der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft nichts. Die Nachteile des Mittelstandes werden aber von allen mitgetragen werden müssen. Da die Autoren der Osterweiterung diese Diskussion fürchten, haben sie zu einer Osterweiterungskampagne aufgerufen und sogar die EU zur Finanzierung dieser Kampagne eingespannt. Unsere Parteien haben sich sogar verpflichtet, dieses Thema im Wahlkampf nicht zu diskutieren, um den Wähler unaufgeklärt und ruhig zu halten. Wenn in einer angeblichen Demokratie so grundsätzliche Veränderungen nicht mit dem Wähler diskutiert werden dürfen, steht es schlecht um den Willen und die Interessen der Bevölkerung.

5. Die Großindustrie wünscht für ihre Massenprodukte Käufermassen mit allseitigen Bedürfnissen und ein Zusatzangebot an Arbeitskräften. Und die Sozialfunktionäre wollen Betreuungspotential. Diesen Hintergrund haben die Asylprobleme. Je mehr Asylanten, desto mehr Betreuungsfunktionäre. Kohl wußte, daß die Mehrheit der Wähler mit dieser Entwicklung nicht einverstanden war. Das Thema wurde deshalb kurzerhand zum Tabu erklärt. Wer immer dies Thema auch nur – selbst wissenschaftlich – anrührte, wurde als "fremdenfeindlich, rassistisch, antisemitisch, rechtsradikal" diffamiert. Was den herrschenden Interessen widerspricht, wird in der manipulierten Demokratie nicht diskutiert, sondern tabuisiert.

6. Schröder ist nicht an die Macht gekommen, weil die Wähler etwa wieder Sozialismus wollten; sie wollten nur den wähler- und demokratiefeindlichen Kohl loswerden. Hinter der neuen Regierung stehen nicht einmal 30 Prozent der Bevölkerung. Aber Schröder hat von Kohl gelernt: Er erklärte kurzerhand alles rechts von der eigenen Partei als rechtsradikal. Seitdem hat ein "anständiger Deutscher" hinter der linken Regierung zu stehen. Selbst CDU und FDP machen diese Kampagne mit. In Schulen, Behörden und nach dem neuen Betriebsverfassungsgesetz sogar in den Betrieben muß nun alles "Rechtsradikalismus" bekämpfen, womit inzwischen jede Kritik an der bürgerfeindlichen Politik der Regierung gemeint ist.

Sinn dieser Kampagne ist nicht die Bekämpfung der nicht einmal ein Tausendstel der Wähler ausmachenden wirklichen Rechtsradikalen, sondern den überall gescheiterten und von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr gewünschten Sozialismus mehrheitlich wieder gesellschaftsfähig zu machen. Dabei klatschen CDU/FDP auch noch Beifall, weil sie nicht erkannt haben, daß die Kampagne letztlich ihnen gilt. Wie früher im Osten entscheidet also wieder einmal nicht die Stimme des Volkes, sondern schaffen sich die Herrschenden ihre Mehrheiten selbst.

Es gäbe noch weitere Punkte, in denen nicht der Wunsch der Bevölkerung und deren Wohlergehen die Politik bestimmen, sondern die Bevölkerung von den herrschenden Cliquen der Großwirtschaft, Gewerkschaft und Politik manipuliert, dirigiert und ausgebeutet wird. Trotzdem wundern sich diese herrschenden Cliquen, daß nur noch Minderheiten der Bürger zur Wahl gehen. Die Bürger haben nämlich längst erkannt, daß ihre Wahlstimme ohnehin nichts mehr zählt, nicht mehr die Ergebnisse der Politik beeinflussen kann. Für den bürgerlichen Mittelstand ist es gleich schädlich, ob an der Spitze der europaversessene "Kumpel der Konzerne" oder der schauspielerische "Genosse der Bosse" steht. Nach dem Willen der Bürger geht es eh nicht. Sie haben den Mund zu halten, richtig zu wählen und zu zahlen. Auch in den Parteien sind deshalb schon lange keine Idealisten mehr, sondern Postenjäger, welche sich stromlinienförmig nach oben empfehlen, um an die begehrten öffentlichen Futtertröge zu kommen. Das erklärt auch, weshalb die jeweiligen Parteivorsitzenden keine echte innerparteiliche Kritik oder Korrektur haben. Und das erklärt auch, weshalb jede Regierungsmehrheit an Mehrausgaben zur Erhaltung der eigenen Wählermehrheiten interessiert ist, nur die jeweilige Opposition der wachsenden Steuerlast und Ausbeutung der Bürger widerspricht. An mehr Gesetzen, mehr Verwaltung und mehr Bürokratie sind allerdings alle angeblich demokratischen Politiker interessiert, weil sie ihre Herrschaft gegenüber den Beherrschten damit absichern können.

Wir hatten bei der Wiedervereinigung die große Chance, entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes eine neue Verfassung für Deutschland und einen neuen Demokratieschub zu schaffen. Die Bürger in Mitteldeutschland hatten gerade darauf gewartet, denn sie wollten ja aus der Herrschaft der Funktionäre zur echten Mitbestimmung der Bürger kommen. Aber auch deren Erwartungen sind enttäuscht. Sie sehen zumeist wieder Funktionäre um sich und über sich. Sie spüren, daß sie selbst als Bürger wenig zu beeinflussen und noch weniger zu sagen haben. Die schleichende Erosion demokratischer Bürgerrechte und Mitwirkung hat sich vom Westen nach Osten verstärkt und in den neuen Bundesländern eher noch größere Enttäuschung als in den alten entstehen lassen.

Es wird Zeit, daß wir diese Defizite erkennen, daß wir mehr echte Mitbestimmung wieder zurück auf die Bürger verlagern, wieder mehr Demokratie wagen und den Politikern wieder klarmachen, daß sie unsere Diener, nicht unsere Herrscher sein sollen.

Eine solche Demokratiereform wird von einer ganzen Reihe von Gruppen in West- und Mitteldeutschland längst angemahnt, ist aber in den verkrusteten Parteien nicht durchsetzbar. In Österreich, Italien, Belgien und Frankreich haben sich deshalb neue Parteien gebildet, die – zumindest anfangs – wieder bürgernäher und bürgerorientierter sind.

Auch in Deutschland wird es Zeit, daß wieder Demokratie von unten nach oben entsteht, daß die Herrschaft von oben nach unten von Großkapital und Gewerkschaften über ihre jeweiligen ihnen hörigen Parteihierarchien beendet und gegen diese Herrschaftsstrukturen wieder neu Demokratie gewagt wird.

Noch sind aber neue Parteien, die dies ernsthaft wollten oder könnten, nicht in Sicht. Offenbar sind wir Deutschen doch obrigkeitshöriger als andere Bevölkerungen in anderen Ländern. Oder muß erst eine Krise – vielleicht Wirtschaftskrise – das wirtschaftliche Herrschaftssystem über die Politik erschüttern und den Weg zu neuer, echterer Demokratie in Deutschland freimachen? Aber auch dazu brauchten wir wohl neue Parteien, die von der Korruption und Finanzabhängigkeit von Großkapital und Gewerkschaften frei sind und wieder den Willen des Bürgers statt den des Großkapitals und der Gewerkschaften verwirklichen wollen. Eine Krise könnte auch solchen demokratischeren Parteien zum Durchbruch verhelfen.

 

Ethel Grünwald schrieb in der JUNGEN FREIHEIT zuletzt über Mittelstandspolitik am Beispiel Freier Tankstellen (JF 22/00) und des Rabattgesetzes (JF 17/00).


 
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