© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/01 20. Juli 2001

 
Im Niemandsland vor der Front
Im Schatten Stauffenbergs: Generalmajor Henning von Tresckow auf dem Weg zum 20. Juli
Bodo Scheurig

Lange stand Henning von Tresckow im Schatten Stauffenbergs. Dabei fand Stauffenberg vor, was er erarbeitet hatte: wesentliche, ja grundlegende Entwürfe des Staatsstreichplanes. Zudem hatten Tresckow und seine Mitverschworenen schon weit eher Hitler zu beseitigen versucht.

Herkommen und Prägung bestimmten Tresckow nicht von vornherein zum Rebellen. Am 10. Januar 1901 geboren, entstammte er einer brandenburgisch-preußischen Soldatenfamilie, und für den Soldaten galt, daß er Befehlen zu gehorchen habe. Aber Herkommen und Prägung verpflichteten Tresckow ebenso auf sein Standesethos. Was ihn leitete, blieb sicheres, unbeirrbares Ehrgefühl. Einmal herausgefordert, war es – in seinen Augen – auch durch Widerstand zu bekräftigen.

Erfahrungen, die er nach dem Ersten Weltkrieg als Bankkaufmann und während einer Weltreise sammelte, festigten sein Denken und Charakterbild. Sie vertrieben jede Engstirnigkeit, schärften seinen wachen, später durchdringenden Verstand. Mit Tresckows Wiedereintritt in die Armee 1926 hatte die Reichswehr einen ungewöhnlichen Offizier gewonnen.

Er war mit Leib und Seele Soldat. Doch gegen Settembrinis Auffassung in Thomas Manns "Der Zauberberg", daß die soldatische Existenz rein formal, also geistig indiskutabel sei, hätte er sich instinktiv, vor jeder Bewährung gewehrt. Bildung nahm er als Pflicht und Ansporn. "Kommiß" war ihm Greuel und Entartung. Früh strebte er auch bei anderen innere Unabhängigkeit an.

1936 zu einem entfernten Verwandten, damals freiwilliger Rekrut des ersten Jahrgangs der allgemeinen Wehrpflicht: "Wie ist die Ausbildung? Wie denkst Du darüber?" "Kein Zuckerschlecken." Die Ausbilder – alte Reichswehr – seien sehr hart. Das habe viel Gutes, überschreite jedoch bisweilen die Grenzen des Notwendigen. In einem Fall wäre es sogar zu sadistischen Exzessen gekommen. Tresckow "Und die Vorgesetzten?" Antwort: Einige sehen weg; andere wüßten von nichts. "Und Deine Meinung?" "Unmenschlich und verwerflich." "Weiter nichts?" "Was soll ich denn tun?" Tresckow: "Dienstlich dem Schwadronschef melden. Kriegsgericht erzwingen. Mancher wird Dich dafür in der Truppe hassen, mancher aber achten und Dir dankbar sein."

Ähnlich, doch noch ernster 1942, nun zu dem jungen Offizier, den er für Ziele des Widerstandes einzuspannen suchte. Wieder forschte er nach Kritik an Zuständen und Ereignissen. Dann fragte er: "Was sollte man tun und wäre das Gegebene? Was hast Du getan? Vor allem: Was beabsichtigst Du zu tun?" Und: "Fühlst Du Dich verantwortlich? Wer ist denn überhaupt verantwortlich? Nur der ’Höhere‘? Wenn dieser nicht bereit ist, aus seiner Verantwortlichkeit die Konsequenzen zu ziehen, dann bist Du verantwortlich." Schließlich: "Unsere militärischen Spitzen verdienen – trotz des Glaubens der Truppe – im Grunde kein Vertrauen mehr. Sie wehren sich nicht gegen kriminelle Befehle, sondern führen sie aus. Im Hinterland geschahen Verbrechen, die ungesühnt bleiben. Regeln der Strategie werden mißachtet. Wir verlieren den Krieg, wenn wir so weitermachen. – Du kommst zu Manstein, in den Stab seiner Heeresgruppe. Konfrontiere ihn mit Konflikten! Zwinge ihn zu Folgerungen, damit er am Tag des Umschwungs zu uns steht! – Dein Dienstgrad ist völlig unerheblich. Du wirst wichtige, geheime Zusammenhänge und auf diese Weise Hitler kennenlernen. Bilde Dir ein eigenes Urteil! Ich kann mir nicht vorstellen, daß Du dann noch zu denen gehören wirst, die subaltern denken, ihren Kopf in den Sand stecken oder sich den Blick vernebeln lassen."

1944, vor Stauffenbergs Attentat, hatte Tresckow seine Haltung längst bekräftigt. Was man tun sollte und er nicht nur zu tun beabsichtigte, war der gewaltsame Anschlag auf Hitler. Das Gegebene hieß: Sturz des Diktators. Und da die Feldmarschälle Bock, Kluge und Manstein, die insbesondere er nacheinander drängte und bestürmte, zögerten oder sich taub stellten, zog Tresckow aus seiner Verantwortlichkeit Konsequenzen. Der Oberst mußte für die Generalität einspringen.

Die Entschlossenheit, die er bekundete, schien ohne Zweifel; doch auch Tresckow hatte innere Kämpfe auszufechten. Eidbruch galt als Sakrileg, Staatsstreich im Krieg als Dolchstoß. Allein die Widerstandsabsicht trennte von Kameraden und Gemeinsamkeiten, von denen sich gerade Soldaten – homogen in Prinzipien – wenn überhaupt, so nur schwer zu lösen vermögen. Mord nun widersprach vollends Tresckows Wesen. Das Bombenattentat aber, in dem er das sicherste Mittel erblickte, gefährdete neben Hitler auch Unschuldige – eine Verstrickung, die zusätzlich belastete. "Ist es nicht ungeheuerlich", fragte Tresckow noch 1943 einen engen Mitverschworenen, "daß sich zwei hohe Offiziere im Generalstab, wir beide, darüber unterhalten, wie sie ihren Obersten Befehlshaber auf dem besten Wege aus der Welt schaffen können?" "Wir sind", so später, "eigentlich doch keine Verbrecher" – Worte, die offenbaren, daß selbst hier Verstand wie Einsicht Mühe hatten, anerzogene, machtvolle Bindungen abzustreifen.

Normen seiner Welt und Gesetze waren gebrochen

Verstand wie Einsicht versagten ihm indes auszuweichen. Normen seiner Welt und erprobte Gesetze waren gebrochen: Eine Führung verdarb – zuletzt, um ihren eigenen Untergang aufzuschieben – das eigene Volk. Rebellion hatte daher Fundamente gültigen Gehorsams wiederherzustellen. Tresckow mußte nicht erst der Krieg belehren. Schon Röhm-Affäre, Gleichschaltung, Kirchenkampf und Judenverfolgung trieben ihn zum Aufbegehren. 1938, während der Sudeten-Krise, sprach er von "Wildwestpolitik" des Führers. Hitler nannte er einen "tanzenden Derwisch, den man totschießen" müsse. So war es nicht der drohende deutsche Zusammenbruch, der Tresckow aufrüttelte und anspornte, aber erst der Krieg und seine Ia-Stellung (1.Generalstabsoffizier) in einem Heeresgruppenoberkommando erlaubten aussichtsreiche Gegenzüge.

Die Pläne, die er hegte, waren radikal. Als Ausnahme unter Offizieren erkannte er, daß einzig Unerbittlichkeit verfing. Tresckow wußte: Hitler, Mann der "Coups", handelte bedenkenlos. Hitler heuchelte nicht, wenn er gestand, daß er nichts verlieren könne. Diesem Eindruck verdankte er, wie mancher Kondottiere, seit je Anziehung und Durchschlagskraft. Politik blieb ihm Kampffeld des Elementaren. Macht stand seinem Denken und Trachten über allem. Gleich vielen hätte Tresckow gewünscht, daß Politik moralisch sei. Gleich vielen räumte er in Selbstprüfungen anfangs dem Gewissen hohe Ränge ein. Doch seine kühle Ratio befreite sich von Vorbehalten: Der Kriegsverlauf ließ, bei nüchternem Blick, Anfechtungen keinen Raum. Seit Stalingrad ging es weniger um Recht als um das nackte Überleben, die Rettung des Reiches. Sie mobilisierte in Tresckow den ungestümen Machtwillen, der Hitler antrieb und ohne den nichts zu wenden war.

Dieser Wille kam aus unverbrauchten oder noch nicht ermatteten Substanzen der Junkerschicht – vielleicht der einzigen, die in Deutschland gewohnt war, Herrschaft anzustreben und auszuüben. Er folgte dem Gebot der Staatsräson, zielte auf das Wesentliche und war der Situation allein gewachsen. "Wir dürfen", mahnte Tresckow, "nicht fackeln, nicht straucheln". Hitler war in seinen Augen einer der größten Verbrecher der Weltgeschichte, die Existenz von Millionen auch den Tod einiger Unschuldiger wert. "Wie einen tollwütigen Hund müssen wir ihn zur Strecke bringen." Versuche, den Diktator umzustimmen oder lediglich in Haft zu nehmen, lehnte Tresckow ab. Der Umschwung erforderte, wie er meinte, angemessene Mittel. Bereits der "eidfreie Zustand", der die Armee zugleich beschwichtigen und mitreißen sollte, verbot Schwankungen und Halbheiten. Erst recht war jede mögliche Gegenwehr des nationalsozialistischen Regimes zu unterbinden.

1944, wieder vor Stauffenbergs Attentat, mußte Tresckow die mißlungenen Anschläge des Vorjahres erneut beklagen. Er täuschte sich nicht über verfehlte Chancen. Die seitdem ertraglos gebliebene Zeit quälte ihn. Wohl hatte er inzwischen mit zielsicheren Details den Staatsstreichplan entworfen. Als Hebel diente "Walküre", das Stichwort für Aufstände von Fremdarbeitern. Nochmals waren Offiziere des Heeres zu Attentaten bereit. Er selbst trachtete, um des dritten Anschlags willen, über Schmundt und Heusinger in Hitlers Nähe zu gelangen, aber alle Anstrengungen scheiterten. Der Sturz des Diktators wollte nicht glücken. Noch immer setzte Tresckow, nach vollzogener Tat, auf einen Ausgleich im Westen.

Bis zuletzt wäre ihm diese Lösung vor Kontakten mit der Sowjetunion die liebste gewesen. Doch die Kriegserfolge der Gegner schmiedeten auch eine widernatürliche Koalition zusammen. Die Konferenz von Teheran erstrebte den vollständigen Triumph. Die Aussichten der Fronde schwanden dahin.

"Der Staatsstreich", gestand Tresckow im Mai 1944 ungeduldig und bitter, "hätte schon längst ablaufen müssen. Hitler ist nicht zu stoppen. Jeder Tag kostet Blut, mindert unsere Hoffnungen, wirft weiter zurück."

Nach der Tat setzte er auf einen Ausgleich im Westen

Nirgendwo konnte Tresckow noch militärische Trümpfe auf seiten Deutschlands entdecken. Das eifrig genährte Wunderwaffen-Gerede belächelte er. Seine damalige Lage-Analyse in knapper Zeugen-Überlieferung: "Ostfront: ’Perlenschnur‘ in Erwartung sowjetischer Offensiven. Unsere Reserven? In Frankreich zu viel. In Rußland zu wenig. Norwegen, Dänemark, Italien und Balkan: Diversion. Kräftebindung, zumeist ohne Sinn. Westen: Riesige Invasionsarmee in England absprungbereit. Luftwaffe: Immer schwächer, feindliche Angriffe dagegen ständig stärker. Innenpolitisch: Tausende von Juden in KZ‘s, Massenvernichtung auf Hochtouren. Sichere Informationen: Das Volk noch ahnungslos. Wirtschaft: Trostlose Versorgungssituation, Rüstung – bei weiteren Gebietsverlusten – endgültig rückläufig. Fazit: Der Krieg ist vollkommen verloren, Mansteins These vom politischen Remis weltfremd. Eine ungeheure Katastrophe steht bevor. Je später sie eintritt, desto schrecklicher wird sie. Finis Germaniae."

Hinzu käme, erläuterte Tresckow, eine andere große Gefahr. Hitler werde über kurz oder lang am Ende seiner Kunst sein. Was läge näher, als dann ein zweites Mal Herrn von Ribbentrop nach Moskau zu schicken? Verhandlungen mit Churchill und Roosevelt schieden aus. Beide habe Hitler – Motto: Säufer und Paralytiker – öffentlich zu oft verunglimpft, als daß sie noch Unterhändler in dessen Auftrag akzeptierten. Also doch keine totale Niederlage, sondern Mansteins politisches Remis? Tresckow registrierte, daß Stalin die ausbleibende Zweite Front empörte. Er hatte, über zuverlässige Kanäle, von Stockholmer Friedensfühlern der Sowjetunion erfahren und wertete die Aktivität des Nationalkomitees "Freies Deutschland" als Verständigungsmöglichkeit mit dem Osten. Derartige Zeichen konnte, wie er argwöhnte, auch Hitler nicht übersehen. So fürchtete Tresckow abermalige spektakuläre Abschlüsse zwischen den Diktatoren – gewiß eine bereits abwegige Sorge, für ihn indes ein Trauma, das erst nach der Invasion und dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte zu verblassen begann.

Diese Ereignisse freilich tilgten auch den Rest des außenpolitischen Spielraums der Fronde. Tresckows Lage-Analyse – militärisch imponierend realistisch – bestätigte sich. Die Katastrophe stand unmittelbar bevor. Was ihn jetzt beherrschte, war untergründiger Pessimismus. "Mit größter Wahrscheinlichkeit", äußerte er zu einem Gesprächspartner, "geht der Staatsstreich schief." Solch ein Satz erschreckt, verwirrt; doch ist es schwierig, seine Gründe auszumachen?

Tresckow ahnte, daß Stauffenbergs nötige Doppelrolle – Attentäter und Organisator der Erhebung – eher zum Fehlschlag hinleitete. Er kannte die schmale, ewig bröckelnde Basis der Verschwörung und das Charisma des "Führers", dem auch Wissende und Sehende erlagen. Mochte die Masse des Volkes nicht länger für Hitler sein: ganz sicher war sie noch immer nicht gegen Hitler. Und selbst wenn nun der Sturz des Diktators endlich glückte, Kapitulation wie Besetzung des Reiches blieben unvermeidbar. Vorwürfe würden die Fronde treffen, die hervorragende Männer besser der Zukunft erhielt. Weitere Umschwungsversuche schienen überholt, ja töricht geworden.

Aber Tresckow konnte sich nicht verleugnen. Schuld und Schande des Regimes empfand er als Stachel. Verstrickung und Versagen des eigenen Standes erbitterten ihn bis zu schmähendem Zorn. Wich schließlich auch die Opposition Hitler, war nach Tresckows Urteil die gesamte Nation gerichtet. Selbstachtung zwang in seiner Sicht zum Aufstand. Resignation hätte er sich nie verziehen. "Das Attentat", ließ er daher Stauffenberg übermitteln, "muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig."

Hier äußerte sich, gegen jede pragmatische "Klugheit", eine unbedingte Moral. Sie fragte allein nach eigenen Verfehlungen, war wiederum "deutsch" oder mutete "deutsch" an. Ihr werden heute kaum Kränze geflochten; doch sie kann nur geringschätzen, wer ohne Phantasiekraft ist und Ehrlosigkeit erträgt.

Tresckow, zuletzt Generalmajor und Chef des Stabes der 2. Armee im östlichen Polen, hörte am Nachmittag des 20. Juli vom Fehlschlag des Stauffenberg-Attentats. Zunächst weigerte er sich, der Nachricht zu glauben. Indizien stimmten ihn zuversichtlich. Er wollte sichere Informationen abwarten und hatte den Nerv, sich schlafenzulegen. Doch in der Nacht – nach Hitlers Ansprache – mußte sein Ordonnanz-Offizier melden, daß der Staatsstreich gescheitert sei.

Beim Aufbruch am nächsten Morgen sagte ihm Tresckow: "Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, daß wir recht gehandelt haben. Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes trete, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodam nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessushemd angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben."

Am 21. Juli 1944, nach letzten Befehlen an die bedrängten Korps seiner Armee, nahm sich Henning von Tresckow im Niemandsland vor der Front das Leben.

 

Bodo Scheurig, geboren 1928, sowjetische Kriegsgefangenschaft, anschließend Studium der Neueren Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Columbia University, New York. Zeitgeschichtliche Veröffentlichungen, u.a. Henning v. Tresckow: Ein Preuße gegen Hitler. Ullstein Verlag.


 
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