© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001


Sommergedanken
Lavaströme vor unserer Tür
Dieter Stein

Sie hätten einmal am vergangenen Samstag durch einen anderen Stadtbezirk von Berlin laufen sollen als Mitte oder Tiergarten. Sagen wir einmal, Sie waren in Pankow. Dann konnten Sie stille, sonnendurchflutete, von üppigen Bäumen beschattete Straßen entlangschlendern. Nur ab und zu rollt friedlich ein Auto vorbei. Sie besuchen den Bürgerpark. Selten spärlich sind die Wiesen mit Familien und Pärchen besetzt, die es sich auf Decken oder Handtüchern gemütlich gemacht haben.

Sie legen sich auf den Rücken und schauen den weißen Wölkchen nach, die langsam über den Himmel ziehen. Von einem Kiosk zieht der Duft von Pommes, Eierkuchen und Kaffee herüber. Leises Murmeln und Lachen dringt ans Ohr. Neben Ihnen sitzt Ihre Liebste und liest Zeitung wie Sie.

Plötzlich hören Sie den Klang einer Geige. Eine fröhliche Melodie erklingt, ein Cello und ein Klavier setzen ein. Auf einem Pavillion hinter einer Hecke hat ein Trio Platz genommen. Die jüngste unter ihnen ist die Klavierspielerin, sie dürfte Ende sechzig sein, der Geiger und der Cellist, die Köpfe mit silbernem Haar gekrönt, weit über Siebzig. Immer mehr Spaziergänger bleiben stehen und lauschen auf die zärtliche Musik – Wiener Melodien.

Niemand ahnt, daß Luftlinie 20 Kilometer südwestlich eine Lawine von einer Million Menschen durch den Tiergarten rollt, angetrieben durch industrielle Musik von über 40 Tiefladern, die im Schritttempo vom Ernst-Reuter-Platz vorbei am Siegesdenkmal zum Brandenburger Tor und zurück fahren.

Tags zuvor hatten bereits die ersten Tausend Techno-Süchtigen den Kurfürstendamm bevölkert. Der Wind trieb Müll über die Straße, überall Berge weggeworfener Flaschen. Aus den Bekleidungsgeschäften wurden Lautsprecher auf die Straße gerückt, rhythmisches Wummern von allen Seiten. Wie die Krieger vor einer bevorstehenden Schlacht zogen Gruppen von Jugendlichen, die Hosen und Hemden meist zu knapp für die drallen Körper, die Straße auf und ab. Zwei Kleinwagen von Coca Cola sind auf die Gehwege gefahren, gierig greifen die Hände nach den gratis verteilten Pullen mit süßer Brause.

Ist das Unpolitische an der Love Parade hochpolitisch? Ist sie einfach nur preußischer Karneval? Ist sie Ausdrucksform einer konsumversessenen, egoistischen Generation? Ist sie Ausdruck der spezifisch deutschen Jugend? Es sind kaum türkische Jugendliche dabei, im Supermarkt höre ich welche über diesen "schwachsinnigen Techno" höhnen.

Undenkbar ist es, daß eine solche Masse derzeit für politische Ziele oder Veränderungen auf die Straße geht. Eine Abstimmung mit den Füßen. Ist wirklich alles so prima in unserem Land? Wieviele der eine Million "Raver" gehen noch wählen?

Es geht uns anscheinend sehr gut. Die Eruptionen des Ätna sind tausende Kilometer von uns entfernt. Die Menschen verlassen auch dort erst ihre Häuser, wenn die Lavaströme ihre Türen erreicht haben.


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