© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
In einer Welt, die so kalt ist
Wenn Wissenschaft kein Wissen schafft: Die Aufsatzsammlung "Kunst – Macht – Gewalt" erzählt alte Geschichten
Silke Lührmann

Zu Beginn der von Rolf Grimmin ger herausgegebenen Aufsatz sammlung "Kunst – Macht – Gewalt" wird Gewalt (oder doch Macht?) mit Hilfe der aristotelischen Poetik als das grundsätzlich Andere, das Unsichtbare und Nichtsichtbarmachbare der Kunst beschworen. (Was passiert, wenn Kunst sich als Sichtbarmachen von Macht versteht und verkauft, hat Doris Neujahr auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT 16/01 glänzend dargestellt.) Am Ende, gut 200 Seiten und 13 recht mühsam durchdringliche Essays später, ist der Leser kaum klüger. Zwar hebt Karl Heinz Bohrer die vorgegebene Konstellation sogleich auf, weil er dank Montaigne Literatur immer als Gewaltakt, als "Verletzung" begreifen kann.

Wie meistens, wenn Kunst (von Macht und Gewalt ganz zu schweigen) als Wissenschaft und nicht aus Leidenschaft betrieben wird, ist das Ergebnis ein fader Abklatsch dessen, was sie selber leisten und zeigen kann. Das ahnen die Autoren und wissen auch, daß die drei Begriffe weniger austauschbar sind, als dieser Band glauben macht, der aus einer Tagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld entstand.

So erhält man erhellende Einblicke in die Geschichte der Situationistischen Internationale, der es praktischerweise gelang, gleich alle drei Kategorien mehr oder weniger restlos in einer vierten, dem Spiel, aufgehen zu lassen. Carsten Bäuerls verhaltene, aber immerhin leidenschaftliche Wiedergabe des "Sacre du printemps" verteidigt Strawinsky gegen Adornos Mißfallen. Anhand "des geschundenen und doch schönen Körpers" verfolgt Iris Hermann den Schmerz als "Gewalt aus der Sicht des Opfers, ihre Teleologie" von Ovid bis Thomas Bernhard, während Boris Groys in "Die Gewalt der Bilder" über das "Neue Sehen", das die künstlerische Avantgarde dem Betrachter abverlangt, als Gewaltakt schreibt.

In Richard Herzingers Rekonstruktion des "revolutionäre(n) Nationalismus in der Weimarer Republik und seine(r) Herkunft aus der politischen Romantik" wimmelt es von Überbietungsfiguren. Nicht nur die Moderne trachteten die Konservativen Revolutionäre mit einem "organologischen Übermodernismus" zu überbieten, sondern auch noch "gleichsam existentialistisch" die "konterrevolutionäre, monarchistische Rechte, deren reaktionäre Ideologie vor dem Hintergrund der Stabilisierung der Weimarer Republik anachronistisch und nostalgisch zu werden begann". Diese wiederum wurzelten in der "säkularisierten Heilsidee" der politischen Romantik – Novalis’ "Deutschheit", die ihrerseits "noch nicht an einen nationalen Volksgeist gebunden und somit kein nationalistisches Konzept" war, aber auf "Überbietung des romanischen Nachbarn angelegt".

Die Nation führt Herzinger als Gesamtkunstwerk par excellence vor, handelte es sich doch "in der aporetischen Denkfigur der konservativen Revolution um eine dynamistische Futurisierung des Bildes von einem wiederherzustellenden, unwandelbaren, allem menschlichen Bewußtsein vorgängigen Urzustand".

Gewalt ist hier das Instrument einer Überführung des Ideellen in das Materielle: In Anlehnung an Heinrich von Kleists Drama "Die Hermannschlacht" verortet Herzinger "’Germanien‘ ... dort, wo das Argumentieren aufhört und der Krieg beginnt – indem die Germanen für ’Germanien‘ kämpfen, wird es real. In dem Augenblick, da der feindlichen Denkart der Kopf abgeschlagen ist, lebt Deutschland ... ."

Die "heroischen Gesten" der Konservativen Revolutionäre "werden als Inszenierungen einer Strategie ästhetischer Selbstbehauptung gegen den Bedeutungsverlust künstlerischer und philosophischer Sinnstiftungsversuche in der Moderne kenntlich": Endsieg der Materie über die Idee, der Macht über die Kunst. "Im ganzen kann aber gerade die pervertierte Einlösung der Forderung nach einer heroischen ’deutschen Moderne‘ durch die NS-Herrschaft als der verheerende Schlag gegen die Übermodernisten betrachtet werden. Die totale Vernichtungskraft der nationalsozialistischen Praxis, zu der die Konservativen Revolutionäre auf mehr oder weniger deutliche Distanz gingen, ließ keine Flucht in die imaginäre Überbietung der Wirklichkeit mehr zu."

In dem bedenkenswertesten Essay der Sammlung erörtert der an der kalifornischen Eliteuniversität Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, warum haßerfüllte Rede (hate speech) noch keinen Straftatbestand der Gewaltanwendung oder gar Körperverletzung darstellt. Er definiert Macht "als das Potential, Räume mit Körpern zu besetzen und/oder zu blockieren", Gewalt als "Aktualisierung" dieses "Potential(s) physischer Dominanz" – und untergräbt seine Prämissen, indem er mit Bohrer der Kunst (weil "ästhetische Erfahrung nicht darauf verzichten kann, die Körper derer, die sich ihr aussetzen wollen in – typischerweise: nicht vorhersehbaren – Modalitäten zu affizieren") eine grundsätzliche Gewaltaffinität zuschreibt, die aber vom Inhalt auf die Form verlagert wird: Würde die Sprache des Hasses stilbewußter verwendet, so wäre sie fähig zu versehren und müßte dementsprechend rechtlich geahndet werden.

Ralf Schnell zufolge überblendete der Nationalsozialismus die Banalität des Bösen durch das Kleistsche Erhabene, dem – anders als bei Burke und Kant – die Naturgewalt nicht mehr immanent, sondern nur noch eingeschrieben ist: "Der erhabene Schrecken kommuniziert". "Gesehen und wahrgenommen hat dies alles nur ein einziger Zeitzeuge, ein technisch hochentwickelter und ein hochartifizieller, nämlich das Auge der Kamera, die Technik des Schnitts und die Ästhetik der Montage in Leni Riefenstahls Film ’Triumph des Willens‘. (...) Wenn der von Kleist beschriebene Transformationsprozeß des Erhabenen von Naturgewalt in Schrift, von Schrift in Gestus durch den Nationalsozialismus eine Fortsetzung erfahren hat, so ist es die Überführung des erhabenen Gestus in filmische Ästhetik."

Wolfgang Lange liest Bertolt Brechts und Walter Benjamins Stellungnahmen zum Nationalsozialismus als Akte – ja, als "Pakt" – eines "intellektuellen Terrorismus", der die Gewalt der Kunst gegen die Gewalt der Macht ausspielen will. "Kein ungefährliches Spiel" war das aus Sicht der Nachgeborenen allein schon deshalb, weil mit "dem Ende des Kalten Krieges die Position des radikal aufs Ganze gehenden, verwegen im Dienst einer Idee agierenden, selbst vor dem Terror nicht zurückschreckenden Intellektuellen derart obsolet (geworden ist), daß, wer sich unterstände, sie aus sich heraus zu verteidigen, damit rechnen muß, in akademische Schutzhaft genommen zu werden – es sei denn, er verkürzt den destruktiven Charakter radikal-ästhetischen Bewußtseins – wie Karl-Heinz Bohrer – um seine politisch-moralische Dimension".

Den abschließenden Beiträgen von Volker Roloff, Luca d’Ascia und Detlef Kremer ist zu verdanken, daß Hitler – oder jedenfalls Hans Jürgen Syberberg – nicht als Intendant der letztgültigen Inszenierung "Kunst – Macht – Gewalt" stehenbleibt. In Roloffs Lesart des "Diktatorenromans" – der gerade keinen lateinamerikanischen Sonderweg beschreiben soll, "als ob es die europäische Barbarei der Weltkriege oder den Holocaust nie gegeben hätte" – begegnet Kunst dem Mißbrauch von Macht als "unaufhebbare Freiheit des Lesers" nach Sartre, indem sie sich weder "als Diskurskritik der Macht, der politischen und wirtschaftlichen Gewalt" verbrauchen läßt noch sich aber in der Schöpfung radikaler "Freiräume" erschöpft, sondern eine strukturelle Nähe artikuliert, "das Imaginäre der Macht und der Literatur miteinander" verflicht. Was sie voneinander unterscheidet, ist, daß diese Nähe eben nur imaginiert, nur scheinhaft ist: daß die Kunst sich leisten kann, die Spiegel, die sie vorhält, gleich wieder brechen zu lassen, ohne daß an ihren Scherben ein Lebewesen verblutet.

Hier treten erstmals zwei der Aufsätze in einen Dialog zueinander, denn die Worte, die bei Roloff der Schriftsteller Carlos Fuentes dem Filmemacher Luis Bunuel über "die wunderbare Idee der Freiheit" in den Mund legt: "Aber es gilt die Utopie der Ideen zu bewahren. Sonst werden wir zu wilden Tieren" – diese Worte sind hörbar auch auf jener Bühne, von deren Rampe Brecht (in "Furcht und Elend des Dritten Reiches") seine Schauspieler mahnen lassen wollte: "Vergeßt nicht, daß Gewalt nicht genügt in einer Welt, die so kalt ist." Und was Lange an "Teilhabe", an der "geheimen Komplizität mit der Gewalt" jeder "über das Maß hinausgehende(n), sich dem Neuen verpflichtete(n) Kunst" voraussetzt, schwingt in Roloffs Urteil über die mediale Dimension von Macht mit: "Es bleibt das Problem, eine authentische Position jenseits des Scheins und der Rollenspiele zu finden, die die literarischen Bemühungen, aus der Scheinexistenz und Maskierung herauszukommen, selbst immer wieder zum Schein werden".

In d’Ascias Überlegungen zur "Genealogie der Macht bei Pier Paolo Pasolini" wirkt das Kräfteverhältnis zwischen Macht, Gewalt und Kunst verfremdet, gar entstellt. Die säuberliche Trennung in "einerseits die ’gute‘, revolutionäre Gewalt; andererseits die unterdrückende Gewalt der bürgerlichen Macht", die zu den "betäubenden Vereinfachungen" der 1960er Jahre gehörte, wirft d’Ascia auf, um sie an Pasolinis Schaffen zu verwerfen: "Pasolini war dagegen imstande, die psychische Zweideutigkeit, den ästhetischen Reichtum der Gewalt darzustellen, die keine political correctness vollständig beschwören kann." Der "Freibeuter" und Schreck aller Bürger sämtlicher politischen Färbungen sah seine Aufgabe darin, "den archaischen Sinn der Gewalt als religiösen Ritus gegenüber einer immer ’sinnloser‘ werdenden, banalen und gängigen Gewaltanwendung in Erinnerung zu rufen". So entsteht ein neues "dialektisches Verhältnis von Gewalt der Herrschaft und Gewalt des Heiligen": "Diese Gegenmacht des Heiligen (...) schließt auch die proletarische violence im Gegensatz zu der staatlichen force ein" – womit sich der Kreis der betäubenden Vereinfachungen wieder spiralförmig verengt, wenn nicht geschlossen haben dürfte!

Auch Kremer, dessen "Deformierte Körper. Gewalt und Groteske bei David Lynch und Francis Bacon" die Sammlung beschließt, geht es um Gewalt als semantische Ordnungsmacht: "Der Einbruch tatsächlicher körperlicher Gewalt bedeutet einen nachhaltigen Riß in der Ordnung eines Lebenszusammenhanges"; hierin sieht Kremer ihren "Skandal", den Kunst unzureichend abbildet im "Versuch, die Gewalttätigkeit der Welt neu zu schaffen". Statt dessen erzeugt sie Effekte, die sich in Affekte entladen, wenn man sich auf sie einläßt: in moralische wie eben den Skandal, in ästhetische wie den Ekel. Künstliche Gewalt kann nicht wirklich zerstören, aber sie kann (ver)stören, und genau solchen Momenten spürt Kremer bei Lynch und Bacon nach. Schade, daß er über eine deskriptive Rezeption mit psychoanalytischem Einschlag kaum hinausgeht, statt etwa die interessantere Frage zu stellen, wie sich Ekel und Gewalt eigentlich zueinander verhalten: konventionell, wie es der – wie so oft zu dieser Problematik herbeizitierte – "Laokoon"-Aufsatz Lessings aus heutiger Sicht nahelegt; kongruent, wie Kremers Text vermuten läßt; kontingent, wie die ausgewählten Werke zu mimen scheinen?

In ihren Grundzügen erzählen die meisten dieser Essays dieselbe Geschichte, denn über den "ästhetischen Ort der Aggressivität" kennt auch die Postmoderne keine andere. Wo Kunst sich nicht mit Macht verbündet, scheitert sie an der Gewalt, weil reale Gewalt immer mächtiger ist als dargestellte, das Schwert immer mächtiger als die Feder: Reale Gewalt tötet. Wo Kunst sich aber diesem Bündnis nicht versperrt, ist sie keine Kunst mehr.

 

Szene aus Pasolinis Skandalfilm "Die 120 Tage von Sodom" (1975): Entführte Jugendliche müssen nackt vor ihren Peinigern kriechen. Nach qualvollen und erniedrigenden Exzessen werden sie Tode gefoltert.

 

Literatur: Rolf Grimminger (Hrsg.): Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, 232 Seiten, 48 Mark


 
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