© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
Die Lebenslügen der Satten
Jean Ziegler führt den zügellosen Neoliberalismus als Grundübel des Hungers an
Volker Kempf

Der Form nach präsentiert Jean Zieg ler sein Buch mit der Frage "Wie kommt der Hunger in die Welt?" als "ein Gespräch mit meinem Sohn". Die Rechnung, konzeptionell an die Erfolgsstory von Jostein Gaarders "Sofies Welt" anzuknüpfen, scheint aufzugehen. Ziegler erreicht nicht nur ein Fachpublikum und wissenschaftlich interessierte Laien, sondern auch Leser von weit verbreiteten Büchern wie "Papa, was ist ein Fremder?" oder "Papa, Charlie hat gesagt..." Die anspruchsvolleren Freunde der "Papa-Literatur" dürften teilweise aber nicht ganz zufrieden sein. Die Dialoge wirken oft mit überflüssigen Fragen gespickt, nur um die Antworten von "Papa" nicht zu lang werden zu lassen.

Wichtiger als die einen breiten Leserkreis ansprechende Form ist der präsentierte Inhalt, der ein Abgesang auf die Marktwirtschaft zu sein scheint. Jedenfalls besetzt Ziegler alle negativen Aspekte der Marktwirtschaft mit dem Attribut "kapitalistisch", die positiven Aspekte, nämlich die Hilfslieferungen der "kapitalistisch" begründeten Staaten jedoch nicht. Damit wird zwar eine Sehnsucht vieler Leser bedient, auf den "Kapitalismus" und die bösen "Kapitalisten" schimpfen zu können. Ganz fair ist dies jedoch nicht. Auch ergibt sich der Widerspruch, daß der verteufelte "Kapitalismus" gerade in den Ländern nicht zur Blüte kommt, in denen am meisten gehungert wird.

Zu kurz greift damit Zieglers Kritik an den Mängeln des kapitalistischen Systems, sprich an der Marktwirtschaft. Manche detailgetreu vorgetragene Kritik an Großkonzernen mag dennoch berechtigt sein. Die Lebenslüge, von der manche Konzerne zehren, ist der Umstand, daß das Gewinnstreben, zumindest in deregulierten Teilen der Welt, rasch in einem nicht hinzunehmenden Maße zu Lasten anderer geht. Daraus wird dann aber zu oft eine pauschal wirkende Diskreditierung der Marktwirtschaft abgeleitet.

Eine Lebenslüge, die Ziegler ferner aufgreift ist, daß satte und träge Menschen auf die hungernde Welt blicken und erklären, dies müsse so sein, damit sich die Weltbevölkerung stabilisiere. Weniger selbstbetrügerisch wäre es, bescheidener zu leben, etwa durch fleischlose Ernährung, damit auch andere genug zu essen haben. Gemessen am Status quo reguliert sich die Weltbevölkerung aber doch durch Hunger in der Welt. Je mehr wir und unser Vieh verspeisen, desto weniger bleibt für den Rest der Welt übrig. Das gilt besonders deutlich für die Fischbestände, die schon heute geplündert werden und somit für die nach wie vor wachsende Weltbevölkerung in Zukunft immer weniger hergeben, was dann unweigerlich zu Hunger führt. So reguliert sich die Bevölkerung, auch wenn das Ziegler "dumm" findet, letztlich doch durch Hunger. Da bleibt Ziegler nur der verzweifelte Ruf, Güter mögen gerechter verteilt werden. Letztlich wird es aber darauf ankommen, den von ihm verteufelten Kapitalismus auf der Welt zum Blühen zu bringen, damit es erst gar nicht so weit kommt, daß Menschen vom Almosen anderer leben müssen. Ob das bei einer Bevölkerungszahl von über sechs Milliarden Menschen machbar ist, ist eine andere Frage. Ein globaler Umverteilungsstaat dürfte auch nicht der Weisheit letzter Schluß sein.

Bleibt dann also doch nur Hunger und Krieg als Bevölkerungsregulation, so lange wir unsere zivilisatorischen Ansprüche auf heutigem Niveau halten wollten. Zu kritisieren, daß die Welt schlecht ist, kann man gegenüber seinem kleinen Sohn immer. Doch die Wege zu benennen, wie Besserung erzielt werden kann, ist ungleich schwerer. Man sollte es von dem Schweizer Autor auch nicht erwarten. So schließt Ziegler auch rein gesinnungsethisch mit einem verzweifelten Ruf nach der Hoffnung, im unerschöpflichen Willen der Menschen zu mehr Gerechtigkeit liege die menschliche Zukunft. Nur, der Wille allein genügt nicht.

Um Zieglers Buch nicht schlechter zu machen als es ist, sei bemerkt, daß die präsentierten Details an sich durchaus informativ und lesenswert sind. Dabei kommt dem Autor zugute, daß er als weitgereister Zeitgenosse ortskundig die Situation in einzelnen Ländern schildern kann.

 

Jean Ziegler: Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn. Bertelsmann Verlag, München 2000, 155 Seiten, 32 Mark


 
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