© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
"Frau, komm!" – eine Stadt wird vergewaltigt
Massenvergewaltigungen und Zwangsprostitution deutscher Frauen bleibt tabu
Doris Neujahr

Vor gut drei Jahren fand eine Debatte über den von der deut schen Literatur angeblich vergessenen Luftkrieg gegen deutsche Städte statt. Sie endete haarscharf an dem Punkt, an dem sie interessant wurde. Denn schnell stellte sich heraus, daß die Amnesie gar nicht zutraf. Bücher von Borchert, Kasack, Nossak, Remarque oder Gerd Ledig wurden genannt, die nur keine Resonanz gefunden hatten. Die Nachkriegsgesellschaft hatte sich gegen das Thema gesperrt. Im Nachwort zu der eben erschienen Neuauflage von Gerd Ledigs "Vergeltung" zitiert Spiegel-Redakteur Volker Hage aus einer Rezension von 1956: Zehn Jahre nach Kriegsende lehne man Darstellungen ab, "die jeden positiv ausgerichteten metaphysischen Hintergrund und Ausblick vermissen lassen". Heute nennt man das: Verdrängung bzw. Flucht in falsche, christlich-abendländische oder existentialistische Tröstungen. Hage fehlte leider der Mut, gegen den Komment bundesdeutscher Diskurse zu verstoßen und die naheliegende Frage zu stellen, warum denn die Nach-68er-Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, die Verdrängungen der Adenauer-Ära überwunden zu haben, besagte Autoren nicht längst schon rehabilitiert hat.

Dieser Komment besteht in einer Art Schuldtheologie, in der die Deutschen soundsoviel verbrochen und dafür völlig zu Recht soundsoviel (wenn auch noch längst nicht genug) gebüßt haben, so daß man heute in der beste aller möglichen moralischen Welten lebt. In diese bequeme Theologie passen die von Ledig und anderen geschilderten "nächtlichen Massenmorde" (Golo Mann) der alliierten Bomberflotten nicht hinein.

Frau Rosh ist interessant als pathologischer Fall

Ein Beispiel: Als der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau sich 1999 in einer Talkshow unter Hinweis auf die Zerstörung seiner Heimatstadt 1943 mit 50.000 Toten als Gegner der NATO-Bombardements auf Belgrad bekannte, tobte die unter dem kapriziösen Künstlernamen "Lea Rosh" bekannte Moderatorin los: "Wer hat angefangen mit dem Krieg? Wer hat angefangen?" Eine vernünftige Diskussion war danach nicht mehr möglich.

Frau Rosh repräsentiert in extremer Weise die Generallinie deutscher Geschichtspolitik nach 1968. Natürlich ist sie ideologisch verblendet, doch eigentlich interessant ist sie als pathologischer Fall. Ihr Ausbruch enthüllte einen massiven Abwehrmechanismus. Um sich nicht als Mitglied des Opferkollektivs fühlen zu müssen, das die Deutschen zweifellos auch waren, und sich die Realisierung seiner Leiden zu ersparen, stilisiert sie sich zum Sprachrohr eines "geläuterten Tätervolkes", welches erlittene Unrechtstaten weiter verdrängt, indem sie sie zu Gerechtigkeitsakten umdeutet. Doch es hilft nichts: Noch in Frau Roshs demonstrativer Gefühlsrohheit treten die blockierten Schmerzen und Traumata der Deutschen an die Oberfläche.

Das stärkste und noch weitaus stärker als der Luftkrieg tabuisierte Trauma ist die Massenvergewaltigung deutscher Frauen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg. Gewiß erwähnt jedes halbwegs solide Geschichtsbuch die Untaten in ein, zwei Sätzen, aber die individuellen Schicksale und kollektiven Folgen dieser erlittenen sexuellen Gewalt sind bis heute kein öffentliches Thema und haben auch in der Literatur kaum Widerhall gefunden. Sogar die Frauenbewegung hat an dieses Tabu nicht gerührt.

Die Wissenschaft in Deutschland hat sich dieses Themas erstmals 1998 angenommen. Allerdings nicht die Geschichtswissenschaft, sondern das Institut für Psychologie der Universität Jena, wo man sich mit Posttraumatische Belastungsstörungen (PTS) – deren Ursache häufig sexuelle Gewalt ist – beschäftigt. Der Zeitpunkt ist bemerkenswert spät, denn die Diagnose "Posttraumatisches Belastungssyndrom" wurde bereits 1980 im Diagnosehandbuch des amerikanischen Psychiatrieverbandes aufgeführt.

Die PTS-Symptome werden vielfach in der stationären Altenarbeit diagnostiziert. Ältere Frauen leiden häufig unter Hysterie, Depression, Schizophrenie, Schlafstörungen, Angstzuständen. Meist werden sie bloß medikamentös behandelt. Wenn Therapeuten überhaupt einmal den Leiden auf den Grund gehen, stoßen sie oft auf Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die heute 60- bis 100jährigen Frauen haben die erlittene sexuelle Gewalt verdrängt. Erst jetzt, da sie aus dem Arbeitsprozeß und dem vertrauten Familienkreis gelöst und auf sich selbst zurückgeworfen sind, kehren die Erinnerungen zurück. Mit zunehmendem Alter funktioniert das Langzeitgedächtnis besser als das Kurzzeitgedächtnis, zudem geraten sie bei der Körperpflege durch Dritte in Situationen, die sie an die Vergewaltigungen erinnern.

In der Fachliteratur wird der Fall einer alten Frau berichtet, die mehrere Tage hintereinander in Panik über das nächtliche Erscheinen von Tieren in ihrem Bett erzählte. Es stellte sich heraus, daß sie 1945 von amerikanischen Soldaten vergewaltigt worden war. Ihre Panik war ausgelöst worden durch den täglichen Besuch, den eine Mitpatientin von ihrem amerikanischen Ehemann erhielt.

Die erste Ursachen der anhaltenden Verdrängung in der Gesellschaft ist das Schweigen der Opfer. Abgesehen davon, daß sexuelle Gewalt fast immer zu inneren Blockaden führt, ist hier zu bedenken, daß die Frauen in einer Zeit aufwuchsen, in der die sexuelle Sphäre generell mit einem Mantel aus Scham und Schweigen bedeckt war. In der vom Bundesinnenministerium herausgegebene Dokumentation zur Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen stößt man in den Berichten von Frauen immer wieder auf den Satz: "Was dann geschah, kann man überhaupt nicht in Worte fassen."

Es handelte sich nicht einfach um Einzelexzesse

Das heißt nicht, daß das Problem der Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg nie öffentlich gemacht worden wäre. In den Büchern von Lew Kopelew und Alexander Solshenizyn ist nachzulesen, daß es sich nicht einfach um eine Anhäufung von Einzelexzessen handelte, sondern daß sie massenhaft, wie durch eine unsichtbare Hand gesteuert, geschahen. Kopelew beschreibt, wie ein Rotarmist, der über die Vergewaltigungsorgien in Ostpreußen verzweifelt ist, sich schließlich unter dem herrschenden Kollektivzwang ebenfalls an ihnen beteiligt. Die Hinweise Kopelews und Solshenizyns sind von der Wissenschaft und Publizistik in Deutschland aber nie aufgenommen worden. Eine der wenigen Publikationen ist die von der Filmemacherin Helke Sander, die aus der Ex-DDR stammt, ihre Sozialisation also jenseits der "Reeducation"-Gesellschaft erfahren hat. Für ihr Buch "Befreier und Befreite" (1995) hat sie Opfer befragt und Archivdokumente durchforscht.

Allein in Berlin sind demnach zwischen Frühsommer und Herbst 1945 mehr als 110.000 Frauen vergewaltigt worden. Die von Sander interviewten Frauen wurden zwischen 1909 und 1930 geboren. "Es wurden sehr viele junge Mädchen vergewaltigt. Ich sprach mit sehr vielen, die damals 13, 14 Jahre alt waren und keine Ahnung hatten, was mit ihnen geschah. Bei vielen führte das dazu, daß sie später nie mehr mit einem Mann schlafen konnten und ‚Abscheu gegen den sexuellen Akt überhaupt‘ entwickelten." Die Vergewaltigungen fanden auf der Straße, in Kellern, in Wohnungen statt, wo Kinder und andere Menschen zuschauen mußten bzw. nacheinander ebenfalls vergewaltigt wurden. Viele von ihnen wurden mehrfach vergewaltigt, eine erzählte von zehn Russen hintereinander. "Das hat mein ganzes Leben als Frau geprägt. Ich habe mir geschworen, alleine zu bleiben."

In dem 1953 erschienenen, heute vergessenen Berlin-Buch des Journalisten Curt Riess, für das Ernst Reuter ein Vorwort verfaßte, ist eine Schilderung enthalten, die ansatzweise eine Vorstellung des Geschehens vermittelt: "In allen Häusern, in allen Kellern ertönte der monotone Ruf: ‚Frau, komm!‘ Einige wenige entkamen, indem sie sich wochenlang versteckt hielten unter einem Bett, in einem Schrank, auf einem Dach. Aber es entkamen viel weniger, als später behauptet wurde. Die meisten mußten das Schicksal erleiden, von dem sie geglaubt hatten, es sei viel schlimmer als der Tod. Und sie mußten es durch Männer erleiden, mit denen sie sich noch nicht einmal verständigen konnten, von deren Sprache sie kein Wort verstanden, und die nichts verstanden von dem, was sie schrien, von Männern, die fast ausnahmslos abschreckend häßlich waren, die sich seit Wochen nicht gewaschen hatten, die vor Schmutz und Schnaps stanken und alle möglichen Krankheiten haben konnten. – ‚Frau, komm!‘ Aber seltsam; Wenn das Entsetzliche erst fünf- oder sechsmal geschehen war, war es nicht mehr so entsetzlich. Das, was man nicht überleben zu können glaubte, wurde von vielen zwanzig- und dreißigmal überlebt. Und immer weiter gingen die Vergewaltigungen, immer von neuem stürzten sich die Russen auf ihre Opfer. – ‚Frau, komm!‘ Eine Stadt wurde vergewaltigt."

Aus Täterbefragungen ist bekannt, daß ein Vergewaltiger nicht so sehr sexuelle Befriedigung im Sinn hat, sondern die Demütigung und Unterdrückung von Frauen. Im bewaffneten Konflikt bilden die Vergewaltigungen ein effektives Mittel, mit dem der Gegner zermürbt und, über den Zeitpunkt der Kapitulation hinaus, gedemütigt, traumatisiert und handlungsunfähig gemacht wird. Sie fügen schwerste Verletzungen in den Tiefenschichten der Individual- und kollektiven Psyche zu. Spätestens der Balkan-Krieg hat klargemacht, daß Massenvergewaltigungen keineswegs spontan aufkommen, sondern zum Kalkül gehören.

Durch die Vergewaltigung der Frauen, Mütter, Großmütter und Töchter wurden auch die übrigen Familienmitglieder psychisch beschädigt. Sander schreibt: "Viele (Frauen) litten unter den Vorwürfen und Drohungen ihrer eigenen Männer mehr als unter der Vergewaltigung. Es gab Männer, die ihre Frauen und sich selbst umbrachten. Ungeklärt sind nach wie vor die etwa 70.000 Todesfälle, die nach Beendigung der Kriegshandlungen bis zum Ende des Jahres 1945 allein in Berlin als gewaltsame Todesfälle statistisch erfaßt sind."

Die Vergewaltiger waren nicht nur russische Soldaten. Amerikaner, Engländer und Franzosen gehörten ebenfalls zu den Tätern. Kaum bekannt ist die Zwangsprostitution deutscher Frauen bei amerikanischen Soldaten in den Jahren zwischen 1945 bis zur Währungsreform 1948. Um ihre Kinder durchzubringen, suchten sie die Nähe zu amerikanischen Soldaten, die den harten Dollar nicht ohne Gegenleistung hergaben. Um sich ihnen anzubieten, fuhren die Frauen oft stunden- und tagelang auf Güterzügen zu den Kasernen, wo sie Schlange standen. Davon ernährten sie ganze Familien. Wegen der Art ihres Gelderwerbs fühlten die Frauen sich schuldig. Ihren Haß richteten sie gegen sich selbst.

Auch die DDR Literatur mußte zum Thema schweigen

In der DDR verbot sich die Erörterung dieses Themas. Wolfgang Leonhard berichtet in seinem Buch "Die Revolution entläßt ihrer Kinder", daß die anhaltenden Vergewaltigungen durch Rotarmisten das Ansehen der SED untergruben. Die SED-Führung untersagte den Parteigremien, öffentlich Stellung zu nehmen, brachte aber das Thema in Moskau zur Sprache. Stalin persönlich schmetterte die Beschwerden mit den Worten ab: "Ich dulde nicht, daß jemand die Ehre der Roten Arme in den Schmutz zieht." Uwe Johnson berichtet in den "Jahrestagen", daß Ärzte und Amtsträger in Mecklenburg, die um Genehmigungen für Abtreibungen nachsuchten, weil die Schwangerschaften durch Vergewaltigungen zustande gekommen waren, Gefahr liefen, wegen "Beleidigung der Roten Armee" in russische KZs zu kommen.

Auch die DDR-Literatur mußte schweigen. Christa Wolf deutete im Roman "Kindheitsmuster" (1976) die Wirklichkeit an, indem sie von einen jungen russischen Offizier erzählte, den Flüchtlingsfrauen über ein eigens installiertes Alarmsystem regelmäßig gegen zudringliche Rotarmisten zu Hilfe rufen. Von vollzogenen Vergewaltigungen ist nicht die Rede. Einige Jahre später wagte es der aus Oberschlesien stammende Werner Heiduczek im Roman "Tod am Meer", die Vergewaltigungen im Osten beiläufig zu erwähnen, was eine Intervention des russischen Botschafters bei Honecker zur Folge hatte. Selbst bei ihm stach er in eine offene Wunde. Jedenfalls grummelte Honecker im trauten Kreis, die DDR sei doch keine russische Kolonie. Das Buch durfte in kleiner Auflage erscheinen.

Auch in Westdeutschland paarte sich politisches Desinteresse mit psychologischen Blockaden. In den fünfziger Jahren ging es darum, die mentalen Grundlagen für das transatlantische Bündnis zu schaffen. In mehreren Filmchen mimte Elvis Presley den freundlichen, kinderlieben, in Deutschland stationierten Gl. Die öffentliche Erörterung von Vergewaltigung und Zwangsprostitution hätte da nur gestört.

Betretenes Schweigen auch in der Literatur. Der prüde Heinrich Böll mied das Thema. Günter Grass, der gewöhnlich vor keiner Deftigkeit zurückschreckt, hat die Vergewaltigungen wohl erwähnt, aber nicht wirklich thematisiert. In Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" (1951), der in München, in der amerikanischen Besatzungszone, spielt, wird die Prostitution aus Not zunächst zwar offen angesprochen, doch nur, um sofort in eine romantische Liebe zwischen einer Deutschen und einem schwarzen Gl transformiert zu werden, die von der nazistisch durchseuchten Umwelt bedroht ist. Erst Hans Ulrich Treichel, Sohn ostpreußischer Eltern, hat 1998 in seiner Novelle "Der Verlorene" die Vergewaltigung im Krieg zum Grundthema eines literarischen Textes gemacht. Sie beschreibt sie als eine ungeheilte Wunde, die das Leben einer Nachkriegsfamilie in Westdeutschland über Jahrzehnte vergiftet.

Der Gewaltexzess schlägt nach wie vor keine Wellen

1999 wurde in diesem Zusammenhang erstmals ein Musterprozeß um eine Rentenerhöhung durch mehrere Instanzen erfolgreich durchgefochten. Die Klägerin litt nachweislich an Posttraumatischen Belastungsstörungen infolge sexueller Gewalt am Kriegsende. Hinzu kommen einige neueren Veröffentlichungen aus den Bereichen Psychatrie und Geriatrie. Doch größere Wellen schlägt das Thema nach wie vor nicht.

Kürzlich begegnete ein FAZ-Bürschchen namens Michael Allmeyer der Forderung, das deutsche Kino solle wieder deutsche Themen entdecken, mit der Behauptung, "das Nachkriegs- und Teilungsdeutschland, dessen Widersprüche soviel Filmstoff barg, ist verschwunden". Es ist deprimierend, wie wenig Ahnung von deutscher Geschichte es neuerdings braucht, um sich in der "Zeitung für Deutschland" über deutsche Geschichte ausbreiten zu dürfen. Die vergewaltigten und zwangsprostituierten deutschen Frauen gehören bis heute zu den vergessenen, verdrängten, verhöhnten Kriegsopfern. Frau Rosh, übernehmen Sie! Sie selber können an dieser Aufgabe nur gesunden!

Sowjetische "Befreier" in Berlin 1945: Allein in Berlin wurden zwischen Frühsommer und Herbst 1945 mehr als 110.000 Frauen vergewaltigt


 
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