© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Sein oder Nichtsein – und der Rest ist Schweigen
Theater: Peter Brook inszeniert Shakespeares "Hamlet" in wohltuend sparsamer Strenge
Hans-Jörg von Jena

Es geht also auch so. Ganz einfach, ganz schlicht. Fast ohne Ausstattung und Aufputz. Der Reichtum der Dichtung wird von Peter Brook auf ein orangerotes Geviert gebannt. Eine Lebensfläche; auf ihr haben sich alle zu bewähren, die Figuren des Stücks wie die Schauspieler, die sie verkörpern. Wer stirbt oder abtritt, kauert am Rand, wartend aufs neue Stichwort, den neuen "Ruf zur Leidenschaft".

Radikal hat der altersweise britische Regisseur Shakespeares Drama verknappt und zugleich konzentriert. Längst unterscheidet er bei Klassikern zwischen dem known play, das seine Interpretations- und Rezeptionsgeschichte mit sich herumschleppt, und dem secret play, das er von Vorwissen oft eher verschleiert sieht. "Spektakel-Theater wird mir immer unwichtiger", äußert er im Gespräch. Peter Brook geht es um den Kern. Darin steht er – weiß er es? – dem jungen Goethe nahe, der in seiner "Rede zum Schäkespears Tag", Straßburg 1771, dem "schönen Raritätenkasten" des Dichters "den geheimen Punkt" vorzog, um den sich jedes seiner Stücke drehe.

Und was ist hier dieser Punkt? Was sieht Peter Brook heute als den Kern des "Hamlet"? Gewiß die Geschichte eines jungen Mannes, der an dem ihm wesensfremden Racheauftrag zerbricht. Daran ist nichts Überraschendes. Aber: dieser junge Mann ist ihm kein Einzelfall, sondern exemplarisch für Überforderung durch das Leben. Brook begreift ihn als Archetypus in einer archetypischen Situation. Also als Mythos. Der aber teilt sich zuerst und zuletzt über die Sprache mit.

Der Theatermann Brook behauptet nicht, damit den Stein der Weisen, den ein für allemal gültigen Schlüssel für das rätselvollste Werk Shakespeares gefunden zu haben. Er hat "Hamlet" früher ganz anders inszeniert, Wort für Wort mit Peter Steinschem Vollständigkeitsdrang. Er weiß aber, daß jeder große Text ständig neue Aspekte und Zugänge bietet. Von einer "Variation zu einem unendlichen Thema" sprach seinerzeit schon Lawrence Olivier anläßlich seines "Hamlet"-Films. Vor einigen Jahren setzte sich Peter Brook in den faszinierenden "Qui è là?"-Studien mit der Inszenierungstradition des "Hamlet" auseinander.

Dies "Qui è là ?", nur diesmal im originalen Englisch als "Who’s there?", steht als Motto auch über dieser Inszenierung. Die harmlos konkrete Eingangsfrage des Stücks weitet sich allmählich zur Frage nach der conditio humana. Wer da? Und warum? Wer das beantworten könnte! Niemand kann das, natürlich auch Peter Brook nicht, aber er kann die Urfrage in ihrer ganzen Schärfe und in des Wortes verwegenster Bedeutung stellen.

Wie tut er das? Quer zur Bildersucht und Schaulust der Zeit (die schon Shakespeare zu bedienen hatte). Seine Schauspieler können sich an nichts festhalten als an sich selber. Brook braucht nicht mehr als acht, die in der Mehrzahl mehrere Rollen spielen. Ihre Gestik erwächst aus der Sprache. Aber nicht jedes Wort ist gleich wichtig und damit sakrosankt. Der Praktiker Brook hat außer auf die meisten Nebenpersonen auf so viel Text verzichtet, daß "Hamlet" in knapp zweieinhalb (pausenlosen) Theaterstunden abrollen kann. Es wird vorzüglich gesprochen; Shakespeares Musik dringt ins Ohr, der wunderbare deutsche Schlegel-Text (Übertitel) legt sich darüber wie ein kostbarer Palimpsest.

Die Schönheit der Szene liegt in ihrer Sparsamkeit, die nicht mit "Einsparung" zu tun hat, sondern mit Strenge. Brook inszeniert aus dem Geist und nach dem Modell des vornehmen japanischen Nô-Theaters. Die schmalen, auf der Sitar gezupften Begleittöne (Musik: Toshi Tsuchitori) halten diese Beziehung gegenwärtig. Neue Beziehungen auch sonst, schon durch die Internationalität des Ensembles: So ist die Ophelia mit einer Inderin besetzt (von jenem Typ, der sich nicht wehren kann). Und wenn der Geist von Hamlets Vater in Gestalt des gleichen Schauspielers über die Szene schlürft, der als König Claudius selbstgewiß über sie schreitet, dann zeigt sich sinnfällig ihre Brüderlichkeit und des Lebens Ambivalenz von Gut und Böse.

Das Spiel in seiner Reduktion ist von hoher Künstlichkeit, dabei aber gänzlich unprätentiös. Intrigengewirr und Machtkampf, die ganze Haupt- und Staatsaktion (die "Hamlet" ja auch ist) schiebt Brook wie einen bloßen Vorwand beiseite. Nur das exemplarisch menschliche Drama interessiert ihn. Deshalb bleiben alle Monologe, die ausführlichen ebenso wie die – oft überhörten – kleinen, erhalten; das "Sein oder Nichtsein" rückt, gleichsam als philosophischer Rückblick, an eine späte Stelle.

Für all das hat Brook in Adrian Lester den geeigneten Hamlet. Schlank und fabelhaft beweglich, wirkt er keineswegs im tieferen Sinne "interessant". Kein Prinz von einst, ein junger Mann vielmehr von heute, den es allerdings zu entdecken lohnt. Die dunkle Haut stellt ihn Othello zur Seite; tatsächlich scheint er zuweilen dessen junger Bruder, etwa wenn er, sehr glaubhaft, Laertes warnt, es sei "etwas Gefährliches" in ihm, oder Ophelia scheu-zärtlich zugleich umwirbt und abweist. Wenn er räsoniert, warum er den betenden König nicht ersticht, blitzt allerdings eher Jagos kalte Tücke bei ihm auf. Lesters Hamlet beherrscht die Kunst, Verse in Konversation, Konversation in Verse zu verwandeln, immer federnd elegant. Auch das pathetische Reden steht ihm zu Gebote, aber er verwendet es nur als lächelndes Zitat (bei den Schauspielern) oder, gegenüber Ophelias biederem Bruder, mit Lust an der Parodie.

Am Schluß liegen alle auf der Szene, die soeben Gemeuchelten wie die Überlebenden, alle stehen dann miteinander auf und danken. Jedes Ende ein neuer Anfang. Auch Berlins lange leerstehendes Theatergebäude in der Schaperstraße erlebte mit diesem "Hamlet"-Gastspiel als "Haus der Berliner Festspiele" einen glanzvollen Neubeginn. Und Brooks Truppe reist von hier aus in die USA, nach Japan, nach Indien, durch Europa, um die Welt.


 
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