© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
„Viele überlebten das nicht“
Anton Wangler, Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft der Deutschen in Rußland, zum 60. Jahrestag der Vertreibung
Matthias Bäkermann

Herr Wangler, die Landsmannschaft der Deutschen in Rußland stand jahrzehntelang als kleine Vertriebenenorganisation im Schatten der großen Landsmannschaften der Schlesier, der Sudetendeutschen und der Ostpreußen. In den achtziger und neunziger Jahren jedoch hat ihre Zahl durch die Zuwanderung vieler Rußlanddeutscher zugenommen. Wie stark ist Ihre Landsmannschaft heute, und welchen Stellenwert hat sie im Bund der Vertriebenen?

Wangler: Die Landsmannschaft hat seit 1985 einen rapiden Anstieg der Mitglieder durch die immer höheren Aussiedlerzahlen zu verzeichnen. Es gibt inzwischen 3,5 Millionen Deutsche aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland, und wir haben 24.500 zahlende Mitglieder, das bedeutet 24.500 Familien (Familienmitgliedschaft).

Gibt es Unterorganisationen, wie beispielsweise eine Gruppe der Wolgadeutschen, oder sind die Vertriebenen aus des verschiedenen Heimatregionen in der Landsmannschaft der Deutschen in Rußland aufgegangen?

Wangler: Unsere Landsmannschaft existiert seit 1950. Sie wurde gegründet von einigen Landsleuten, die nach dem Krieg hiergeblieben sind oder auch schon seit einiger Zeit hier waren. Zur Zeit besteht unsere Landsmannschaft aus 200 Untergliederungen, das heißt Ortsgruppen. Wir haben zwölf Landesgruppen bundesweit, die natürlich in einige Arbeitskreise gegliedert sind. Mit dem Arbeitskreis der Wolgadeutschen zum Beispiel organisieren wir am 26. August eine Veranstaltung in Berlin. Auch haben wir schon Gespräche mit anderen rußlanddeutschen Organisationen geführt, die bereits mit uns zusammenarbeiten bzw. mit uns zusammenarbeiten werden.

Der 5. August ist der 51. Jahrestag der Charta der Heimatvertriebenen, Der Jahrestag des Dekrets der Vertreibung der Wolgadeutschen von 1941 ist der 29. August. Gibt es eine zentrale Gedenkfeier?

Wangler: Das Dekret der Vertreibung ist für uns sehr wichtig. Am 28. August 1941 ist der Ukas des Obersten Sowjets veröffentlicht worden. Nun machen wir in Berlin vor dem Brandenburger Tor eine Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Vertreibung.

Wie viele der hier lebenden Aussiedlerfamilien kommen denn ursprünglich aus der Wolgarepublik?

Wangler: Nach dem Erlaß vom 28. August 1941 wurden alle Deutschen in der Sowjetunion zu Spionen erklärt und als Nazi-Deutsche beschuldigt. Die autonome Wolgarepublik wurde danach aufgelöst und die gesamte deutsche Bevölkerung aus dem europäischen Teil - es gab noch einige in der Ost-Ukraine und im Kaukasus - nach Sibirien, Mittelasien, Kasachstan und in den hohen Norden deportiert. Das lief unter extrem schweren Bedingungen ab, viele überlebten dabei nicht. Wir haben leider keine genaue Zahl, aber es wird geschätzt, daß nach diesem Ukas des Obersten Sowjets ungefähr 1,5 Millionen Deutsche vertrieben wurden.

Wie sind denn die Kontakte zu den noch in den GUS-Staaten lebenden Deutschen? Gibt es von Ihrer Seite Unterstützung oder ist es schwer, den Kontakt aufrechtzuerhalten?

Wangler: Natürlich pflegen wir Kontakte. Am 2. Juni hatten wir beispielsweise ein großes Bundestreffen der Deutschen aus Rußland hier in Stuttgart, und es war auch eine Delegation der Deutschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken dabei; Vertreter aus Moskau, der Ukraine, aus Kasachstan und Kirgistan. Manchmal gibt es Probleme mit der Ausreise. Im sozialen Bereich versuchen wir natürlich zu helfen und haben dafür auch eine Sozialabteilung. Wir machen vor allem viel Öffentlichkeitsarbeit. Zur Zeit organisieren wir eine bundesweite Wanderausstellung. Außerdem sind wir an der Gedenkfeier beteiligt, die am 28. August im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt anläßlich des 60. Jahrestages der Vertreibung stattfindet. Die Evangelische Kirche veranstaltet einen Gedenkgottesdienst. Wir bringen dort auch unsere Wanderausstellung hin: „Schicksalsweg der Deutschen in Rußland“. Am 29. August haben wir eine Veranstaltung in Gera, am 25. August in Potsdam und am 2. September in Mainz im Rahmen der Aussiedlertage. Wir tun einiges, damit das Thema Rußlanddeutsche in der Öffentlichkeit besser ankommt. Denn meistens wird das Thema leider mit dem Stichwort Kriminalität verbunden. Und das, obwohl es doch auch viele positive Beispiele gibt - die Fußballspielerin Renate Lingo zum Beispiel.

Sind in Rußland überhaupt noch Strukturen der deutschen Volksgruppe vorhanden?

Wangler: Es sind noch Strukturen vorhanden, und sie funktionieren auch noch. Wir schätzen die Zahl der Deutschen in Kasachstan auf 600.000 und in Kirgistan auf 10.000 bis 15.000, in der Ukraine auf 50.000 Deutsche. In Sibirien haben wir zwei deutsche Rayons.

Viele Deutsche sind noch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und wollen nach wie vor nach Deutschland kommen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel , hat kritisiert, viele der jüdischen Einwanderer hätten keine jüdischen Wurzeln, sondern würden sich lediglich mittels falscher Papiere zu russischen Juden machen. Gibt es auch einen Mißbrauch, sich auf solchemWege „zum Deutschen zu machen“, um in die Bundesrepublik ausreisen zu können?

Wangler: Solche Fälle sind mir persönlich nicht bekannt, dazu gibt es das Bundesverwaltungsamt, das sich mit diesen Fragen beschäftigt. Wir haben Probleme mit der Sprache, das ist ja auch verständlich, wenn man 60 Jahre nach der Vertreibung immer noch nicht richtig Deutsch lernen kann, obwohl es mittlerweile Sprachkurse gibt. Die Menschen hatten ja keine Kolonien mehr, wie zum Beispiel an der Wolga oder im Schwarzmeergebiet oder im Kaukasus. Deswegen ist unser Hauptproblem natürlich die deutsche Sprache.

Gerade die jüngere Generation beherrscht die Sprache nur schlecht. Die Ursachen sind natürlich klar - die Unterdrückung der deutschen Sprache. Was halten Sie jetzt vom Auswahlprogramm zum Umzug nach Deutschland, das die Einreise nach Deutschland von Sprachkenntnissen abhängig macht?

Wangler: Sprachkenntnisse sind schon wichtig in diesem Zusammenhang. Deutsch als Sprache des Landes muß man natürlich sprechen. Wir begrüßen es sehr, daß Sprachkurse in den Herkunftsländern gegeben werden. Das finden wir gut. Daß die Menschen Deutsch lernen müssen, ist wichtig für die Integration hier und vor allem auch für die Chancen am deutschen Arbeitsmarkt. Was wir aber kritisieren, ist, daß man bei der Anerkennung die Sprache streng prüft und 1996 die Sprachtests eingeführt hat. Das hat dazu geführt, daß viele Leute deutscher Abstammung nicht anerkannt worden sind. Es gibt rußlanddeutsche Familien, die nicht nach Deutschland ausreisen konnten, weil sie die Sprachtests nicht bestanden haben.

Die Aussiedler sind in ihrer Heimat überdurchschnittlich ausgebildet. Diese Ausbildung wird aber in Deutschland nicht oder nur zum Teil anerkannt. Gibt es in den Herkunftsländern Bestrebungen, die Fachkräfte zu halten, und welche Anstrengungen gibt es, die Ausbildungsanerkennung zu verstärken?

Wangler: Der Bildungsstand wurde gezielt niedriggehalten. Wir haben nicht viele Akademiker.

Aber im Handwerk und den technischenBereichen sind die Leute überdurchschnittlich ausgebildet.

Wangler: Ja, im handwerklichen Bereich und im Bereich der Fachkräfte haben wir natürlich viele Leute, die in Rußland gebraucht werden. Man ist heute mittlerweile bestrebt, die Leute zu halten. Meistens finden die Aussiedler in Deutschland Arbeit, spätestens nach einer Umschulung. Diejenigen, die fleißig und bestrebt sind zu arbeiten, finden Arbeit. Im Bereich der Akademiker gibt es Probleme, und ich halte es auch für wichtig, rechtzeitig die Umschulung oder Weiterbildung vorzunehmen, damit man auch wieder einsteigen kann, wenn unsere Landsleute nach Deutschland kommen.

Der kasachische Staatspräsident Nursultan Nasabajew erweckt den Eindruck, daß er die Deutschen ganz gern loswerden würde, um die Kasachen als Staatsvolk demoskopisch zu stärken. Stimmt das?

Wangler: Ich denke mir, die Bestrebungen sind in letzter Zeit eher dahingehend, die Deutschen zu halten, wie auch der Vorsitzende der Deutschen in Kasachstan bestätigte. Die kasachische Regierung ist bemüht, so gut es geht, die Leute drüben zu halten, da die deutschen Fachkräfte als sehr fleißige Menschen einiges für Kasachstan leisten. Andererseits ist es aber so, daß wegen des aufkommenden Fundamentalismus und Nationalismus die Deutschen sich immer öfter entscheiden, nach Deutschland auszureisen.

Es gab Projekte, die Rußlanddeutschen im ehemaligen nördlichen Ostpreußen anzusiedeln. Gibt es bei den noch Ansässigen Bestrebungen, dorthin zu ziehen, da es dort keiner sprachlichen Voraussetzungen bedarf. Oder ist dieses Projekt gescheitert?

Wangler: Ja, es gab Bestrebungen, und einige sind - ich schätze ca. 20.000 - in das Gebiet Kaliningrad gezogen. Die Leute haben dort jedoch unheimlich viele Probleme. Die wirtschaftliche Lage ist dort noch schlimmer als in Zentral-Rußland. Ich denke, der Zuwachs ist nicht mehr da. Die Menschen entscheiden sich entweder, ganz nach Deutschland zu kommen, oder sie bleiben, wo sie sind. Es ist eine neue Gegend für sie, ohne angestammte Freunde und Verbindungen. Die Übersiedlung nach Kaliningrad, früher Königsberg, hat sich nicht weiterentwickelt. Was ich aber sagen möchte: Es gibt gute Bestrebungen von der deutschen Regierung, die Deutschen drüben zu unterstützen und die Projekte weiterzuführen. Natürlich dürfen diese Mittel nicht versickern, sondern müssen die Menschen erreichen.

Es wurde beschlossen, die zeitlichen Dauer dieser Programme zu begrenzen, und viele Aussiedler sind auf die Sprachförderung sehr angewiesen. Gibt es Eingaben an die Bundesregierung, die Sprachprogramme zu fördern?

Wangler: Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Johann Weldt, bemüht sich sehr um diese Problematik, und wir haben auch regelmäßige Gespräche. Er nimmt unsere Vorschläge und Empfehlungen sehr ernst. Ziel dieser Gespräche ist das neue Sprachprogramm 2003. Wir werden uns als Landsmannschaft der Deutschen natürlich daran beteiligen, es gibt viel Nachholbedarf. Außerdem sind wir als Partner natürlich interessiert, die deutsche Bundesregierung zu unterstützen, um dann später die Menschen hier schneller in das soziale, berufliche und gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Das ist für uns von ganz besonderer Bedeutung, und jede gute Initiative in diese Richtung begrüßen wir natürlich.

 

Anton Wangler der Lehrer für Deutsch, Russisch und Englisch wurde 1954 in Krasnokamsk, westlich des Urals, geboren. Nach langjährigem Kampf um eine Ausreisegenehmigung gelang es ihm 1988 endlich, die Sowjetunion zu verlassen. 1989 wurde er Sachbearbeiter in der Sozialabteilung der Stuttgarter Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft der Deutschen in Rußland, zwei Jahre später wurde er deren stellvertretender Geschäftsführer. Seit 1992 ist er Bundesgeschäftsführer.

Kontakt: Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland e.V. , Raitelsbergstr.49 , 70188 Stuttgart

 

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