© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Dekret des Todes
Das tragische Schicksal einer unterdrückten Minderheit
Helena Schäfer

Ein vergessenes Datum der deutschen Geschichte ist der 28. August 1941. Zwei Monate nach Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion erklärte Stalin an diesem Tag alle in der UdSSR lebenden Deutschen per Federstrich zu Staatsfeinden.

Nachdem die deutschstämmige Intelligenz schon in den Jahren der stalinistischen Säuberungen 1935-38 vernichtet wurde, erließ der Oberste Sowjet am 28. August 1941 ein Dekret über die Verbannung der Deutschen. Die 1924 gegründete Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSR) wurde aufgelöst und ihre Regierungsmitglieder erschossen. Gezielt wurde das Gerücht verbreitet, in der Wolgarepublik bereite man sich auf einen Massenverrat an der Sowjetunion vor. Alle Deutschen wurden zu Spionen erklärt und der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland beschuldigt. Ab diesem Zeitpunkt wurden sämtliche in der Sowjetunion lebenden Deutschen systematisch verhaftet, enteignet und nach Sibirien, Kasachstan, Mittelasien und in den Nordural zwangsdeportiert. Viele überlebten die monatelange Reise nicht, starben vor Kälte, Hunger und Erschöpfung. Die Überlebenden erwarteten weitere Martern.

Am 10. Januar 1942 beschloß das sowjetische Verteidigungskomitee die Mobilisierung der vertriebenen Bevölkerung in Arbeiterkolonnen. Alle Deutschen zwischen 17 und 55 Jahren wurden daraufhin in Lager gebracht, wo man sie erst moralisch, dann physisch auszurotten begann. Eine Viertelmillion Frauen und doppelt so viele Männer wurden nach und nach in den mehr als 30 Gulags für Deutsche zusammengetrieben. Familien wurden getrennt, die Kinder in Heime transportiert, in denen viele von ihnen verhungerten oder an Krankheiten starben. Insgesamt kamen im Laufe der Kriegsjahre etwa eine halbe Million Rußlanddeutsche in den Lagern um. Ständig waren sie Erniedrigungen, Gewalt und Schwerstarbeit unter extremen Bedingungen ausgeliefert. Je schlechter die Situation der Roten Armee an der Front war, desto schlechter ging es den Deutschen in den Arbeitslagern. „Töte den Deutschen!“ lautete es unterdessen in der sowjetischen Presse und im Radio von dem stalintreuen Schriftsteller Ilja Ehrenburg.

Die Ausbeutung und Vernichtung der Deutschen setzte sich auch nach dem Ende des Krieges fort, viele blieben noch lange Zeit in den Gulags.

Im September 1955 verhandelte Konrad Adenauer bei einem Staatsbesuch in Moskau mit Nikita Chruschtschow über die letzten 10.000 deutschen Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Während am 17. September 1955 alle in der UdSSR verurteilten Kollaborateure und die in Gefangenschaft geratenen Wehrmachtsangehörigen begnadigt und freigelassen wurden, blieben die Aussiedler noch gefangen und ohne Rechte. Sie standen unter polizeilicher Aufsicht, durften das Siedlungsgebiet nicht verlassen und waren verpflichtet, sich monatlich bei den Behörden zu melden.

Am 13. Dezember 1955 unterzeichnete das Präsidium des Obersten Sowjets ein Dekret „Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und deren Familienangehörige, die sich in den Sondersiedlungen befinden“. Für die Rußlanddeutschen bedeutete das jedoch lediglich die Aufhebung der Meldepflicht und gleichzeitig das Verbot, aus den Sondersiedlungen wegzuziehen. Ferner hielt das Dekret fest, daß keinerlei Anspruch auf das 1941 beschlagnahmte Eigentum besteht. Erst 1964, nach der formellen Rehabilitierung, erhielten die Aussiedler die Erlaubnis, die Siedlungen zu verlassen. Die Rückkehr in den Heimatort sowie die Ansiedlung in Großstädten war untersagt.

Außer dem Privateigentum der Siedler wurde auch das Gemeinschaftseigentum der Kolchosen und Kooperativen nicht zurückgegeben. Die Rußlanddeutschen blieben „Vertriebene im eigenen Land“, behaftet mit dem Makel, Angehörige des „besiegten Feindstaates“ zu sein, und hatten bis zur Perestroika unter staatlichen sowie privaten Repressalien zu leiden.

Die Generation der Rußlanddeutschen, die in der Zeit von 1941 bis 1956 schulpflichtig waren, hatte zum größten Teil keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Deutsche Schulen waren verboten, und das sowjetische Russifizierungsprogramm sollte die deutsche Identität, genauso wie die Identität anderer Minderheiten, auslöschen - was auch fast gelang. Während 95 Prozent der Deutschen, die sich 1924 als solche eintragen ließen, Deutsch als ihre Muttersprache angaben, waren es 1989 nur noch 45 Prozent. Die Pflege der deutschen Kultur und Sprache war nicht möglich und die Anpassung an die russische Bevölkerung das einzige, was übrigblieb. Heute unterscheiden sich die meisten in den GUS-Staaten lebenden Deutschen nur noch durch die im Ausweis eingetragene Nationalität von den Einheimischen.


 
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