© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Noch nicht zu spät
Synanon: Arbeit und Leben für Süchtige
Angelika Willig

Die Süchtigen schöpfen Hoffnung. Tag für Tag mußten sie bisher das Geld für den nächsten Schuß zusammenschnorren, zusammenklauen und bei anspruchsvollen Freiern sauer verdienen. Nun soll es Heroin umsonst geben und ganz legal „auf Krankenschein“. Wer würde da nicht zugreifen? Doch die Sache hat einen Haken. Nicht jeder erhält das begehrte Rezept. Nur die „Schwerstabhängigen“ kommen in den Genuß, die anderen müssen weiter schuften und darben. Klingt ziemlich ungerecht. Vor allem wirft es die Frage auf: Was ist ein „Schwerstabhängiger“, und wie erkennt man ihn?

Krebspatienten im letzten Stadium kriegen in Deutschland zu wenig Morphium. Wer eh bald stirbt, sollte es wenigstens gut haben. Ähnlich begründet ist auch die geplante Heroin-Abgabe. Der Begriff „schwerstabhängig“ bedeutet nichts anderes als unheilbar, hoffnungslos.

Die „kontrollierte Heroinabgabe“ ist ein Zeichen der Resignation und paßt gut in das neue deterministische Menschenbild. Eine Suchtneigung ist offenbar erblich. Frühe Kindheitseindrücke kommen wie bei jeder seelischen Krankheit hinzu. Und wer mit beidem gesegnet ist, mit schlecht programmiertem Gen-Material und mit frühkindlichen Störungen, der kommt da nicht wieder heraus, und mitleidig verpaßt ihm die Mitwelt in Form der Gratis-Spritze eine verzögerte Sterbehilfe.

Nur wenige beharren auf dem altmodischen Anspruch auf Abstinenz. Dazu gehört die Organisation Synanon. Vor dreißig Jahren gründeten ehemalige Drogenabhängige in Berlin das Selbsthilfeprojekt. Von Anfang an ging es bei Synanon recht puritanisch zu. Nicht nur Drogen sind tabu, sondern auch Ersatzmittel wie Methadon und sogar das Rauchen. Wer da nicht abspringt, zeigt Format. Die Therapie beginnt mit einem Kontaktverbot für alle Szenefreunde und Spritzkumpane. Statt dessen sollen Gespräche und Tätigkeit in der neuen Synanon-Familie eingeübt werden. Zur Belohnung winkt ein Arbeitsplatz in der eigenen Druckerei, der Tischlerwerkstatt oder der Verwaltung. Etwa 70 Prozent der Patienten gelten nach etwa zwei Jahren als dauerhaft clean. Doch was ist mit dem Rest? Ist hier nicht jede weitere Therapie hinausgeworfenes Geld? Sollte man diese Nieten nicht möglichst früh aussortieren, weil sie „nichts dafür“ können und nichts dagegen?

Bei aller Rigidität in den Forderungen ist Synanon überraschend offen, was die Auswahl angeht. Jeder wird aufgenommen, auch nach mehreren Rückfällen. Eine Unterscheidung zwischen „Abhängigen“, „Schwerabhängigen“ und „Schwerstabhängigen“ findet nicht statt. Abhängigkeit läßt sich nicht steigern. Und trotz Sucht schreibt man hier dem einzelnen die Möglichkeit der Selbstbestimmung zu. Synanon ist ein letzter Hort freien Willens. „Wir fordern Abstinenz“, sagt Sprecher Jörn Beier, „weil nur ein Leben ohne Drogen ein menschenwürdiges eigenverantwortliches Leben ist.“ Staatliche Gelder in Heroin zu investieren, hält er persönlich für kontraproduktiv. Das Methadon-Programm hat wohl gezeigt, daß es auf die sanfte Tour nicht geht. Irgendwann steht jeder vor der Entscheidung über sein Leben. Die Stärke von Synanon ist der Glaube an eine Umkehr im beinahe religiösen Sinne. Umkehr und Buße aber dürfen keinem verweigert werden. Auch wenn es vernünftiger wäre, sich der Beschaffungskriminalität durch eine Art Schutzgeld zu entledigen und den Dealern in die Suppe zu spucken. Nach Jahrzehnten einer praktisch wirkungslosen Drogenbekämpfung ist das Bedürfnis nach einem Befreiungsschlag schon verständlich. Und wenn es in der einen Richtung nicht weitergeht, dann probiert man es eben in der anderen. Wenn das Verbot nicht durchzusetzen ist, läßt man es allmählich fallen. Denn lange wird es nicht dauern, bis auch andere Bedürftige an die Krippe drängen. Vierzehnjährige Mädchen, die sich von schmutzigen alten Männern anfassen lassen, um die zweihundert Mark täglich für die Droge zusammenzubekommen, werden den Neid nicht unterdrücken können. Da laufen andere in aller Ruhe quasi als Frührentner umher, stets gut versorgt und auf keinen mehr angewiesen. Vater Staat erfüllt den Traum aller Süchtigen: ein ewiger reibungslos funktionierender Nachschub. Warum nicht auch wir? werden sich die anderen fragen. Und bald beschäftigen sich die Gerichte mit Klagen, in denen es um den Anspruch auf kostenlose Heroinversorgung geht. Schließlich kommen die Alkoholiker und verlangen Cognac-Gutscheine.

Synanon schmückt sich mit einer hohen Erfolgsrate. Doch das sagt wenig über den Durchschnitt. Wer zu den Hardlinern geht, beweist bereits eine schöne Entschlußkraft. Die meisten reden nur vom Aufhören und wechseln die Droge von Heroin zu Methadon zu Valium oder alles parallel. Schier unbegreiflich erscheint das Suchtverhalten dem Bürger, der Therapien und Entzüge schließlich bezahlen muß. Er denkt an Frank Sinatra in „Der Mann mit dem goldenen Arm“, und wie der heroisch einen dreitägigen Entzug durchgestanden hat. Damit endet der Film. Doch was kommt dann? Bisher ist die Droge das Problem gewesen. Mit einem „Leben ohne Drogen“ fangen die wirklichen Probleme erst an.


 
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