© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Geistige Zentren der Provinz
Ein Ausstellungskatalog über ostpreußische Herrenhäuser und Schlösser
Hagen Amelung

Viele Güter und Schlösser zwischen Holstein und Livland sind in den letzten Jahrzehnten durch Krieg und Sozialismus zerstört worden oder verfallen. Von diesem Schicksal blieb das 1604 gebaute Renaissanceschloß von Demerthin in der Priegnitz verschont. Doch gerade deshalb bietet dieser Ort den passenden Rahmen für die bis zum 31. Oktober 2001 stattfindende Ausstellung von Wulf Wagner, in der die ostpreußischen Schlösser und Herrenhäuser vorgestellt werden, die sich anders als Schloß Demerthin in beklagenswertem Zustand befinden.

Wagner, Jahrgang 1969, hat sich noch während seines Architekturstudiums an der TU Karlsruhe schwerpunktmäßig der Erforschung der west- und ostpreußischen Herrenhäuser gewidmet. Erstes Ergebnis war die Begründung einer Zeitschrift unter dem Titel „Ostpreußisches Bauen. Beiträge zur ostpreußischen Baugeschichte und zu Neuer Gestaltung“ Mitte der neunziger Jahre, in der Herrenhäuser und Schlösser Ostpreußens durch Grundrisse und Außenaufnahmen, aber auch durch Bilder ihrer Einrichtung vorgestellt wurden. Sie ist längst vergriffen und wird von Wagner nicht mehr weitergeführt, und doch bleibt ein kleiner Schritt gegen das Vergessen des eigenen Kulturerbes. Eine Reihe von Einzeldokumentationen zu ostpreußischen Schlössern und Herrenhäusern folgte.

Eine Fortsetzung dieser Bemühungen ist in der Ausstellung zu sehen. Es ist Wagner darin gelungen, mit der detaillierten Aufbereitung dieses Einzelaspektes der ostpreußischen und ostdeutschen Kultur, mit der Vertiefung auf die Schlösser- und Herrenhauskultur, sowohl konkretes Wissen diesbezüglich zeitgemäß aufzubereiten als dadurch auch Interesse an der Gesamtheit der im Westen so wenig präsenten ostdeutschen Kultur anzuregen. Und dieses Wissen ist so bitter nötig, um auch deutsche Verantwortung für diese alten Kulturlandschaften wieder zu beleben. Wer um etwas Bescheid weiß, dem kann dessen Schicksal nicht gleichgültig sein.

Aber noch kann davon für die Bundesrepublik keine Rede sein. In der Einleitung des Ausstellungskataloges stellt Wagner dann auch fest, daß der namensgebende Teil des preußischen Gesamtstaates und die Krönungsstadt Königsberg/Pr. im amtlichen Almanach zum Preußenjahr nur eine Randerscheinung sind und das wenige Wissen nicht immer zutreffend ist. So merkt Wagner zu Recht an, daß in diesem Leitbuch des Preußenjahres noch immer der von der Forschung schon vor mehr als einem Jahrhundert widerlegte Irrglaube wiedergekäut wird, daß die baltischen Prußen („Pruzzen“ ist eine ebenfalls schon mehr als ein Jahrundert veraltete Schreibweise) „von den Kreuzrittern fast ganz ausgerottet“ worden waren (so die 1951 in Berlin geborene Schriftstellerin Katja Lange-Müller unter dem Titel „Das Preußische Geschlecht“). Dieses kann als guter Indikator angeführt werden, wie häufig gerade bei typischen BRD-Intellektuellen das Desinteresse an Ostpreußen mit einem Pseudowissen verkoppelt ist. Die Grafen Finck von Finckenstein oder die Familie von Saucken mögen als bekanntere Bespiele ostpreußischer Familien aufgeführt werden, die sich auf prußische Herkunft zurückführen lassen und auch nach der gewaltsamen Missionierung Führungspositionen einnahmen, die es ihnen übrigens auch ermöglichte, ihren Beitrag zur ostpreußischen Herrenhauskultur zu leisten. Eine moralisierende Geschichtsbetrachtung gerät eben doch zu leicht in Gefahr, den Unterschied zwischen Eroberung und Ausrottung nicht wahrhaben zu wollen.

Wagners Interesse gilt neben der Dokumentation der baulichen Substanz und der Besitzgeschichte gerade auch der Rekonstruktion der Inneneinrichtung. So finden sich auf seinen Plänen der Schlösser nicht nur die Mauern, sondern auch die Möbel eingezeichnet. Die Farbe der Wände und der Böden zu einer bestimmten Zeit wird ebenfalls angegeben, und auch Hinweise auf den Gebrauch finden sich. Wer die Seite 30 des Begleitbuches aufschlägt, erfährt vom Schloß Groß Holstein in der Nähe Königsbergs mehr als nur den Grundriß. Durch die Einrichtung wird auch die Funktion der Räume deutlich. In Gedanken kann man durch das Schloß streifen. Eine ganze Epoche und ihre Lebensart scheinen uns hier entgegenzutreten.

Das Begleitbuch ist um das Krönungsereignis 1701 herum gruppiert. Nach einer Einleitung zum barocken Herrenhaus in Ostpreußen und einem Abschnitt von Ulrich Matthée zu den Grundlagen des preußischen Militär- und Beamtenstaat werden im ersten Abschnitt die Schlösser des Kurfürsten und späteren Königs Friedrichs I. vorgestellt. Neben dem Königsberger Schloß als Krönungsort werden die Schlösser Groß Holstein und Grünhoff beschrieben. Der zweite Teil befaßt sich mit den Schlössern des höheren Adels. Namen wie Schlodien oder Schlobitten tauchen aus dem Nebel des Erinnerns auf. Harald von Alvenslebens Werk „Besuche vor dem Untergang. Adelssitze zwischen Altmark und Masuren“ sollte nochmals auf die entsprechenden Schlösser hin vertieft gelesen werden, da man nun die Grundrisse und Bilder zur Hand hat. Und schließlich werden 14 Schlösser und Herrenhäuser des Landadels vorgestellt, wovon sich die meisten im nördlichen Teil Ostpreußens befinden.

Auch bei den Herrenhäusern des Landadels klingt mancher Name bekannt. Tharau, rund 60 Kilometer südlich von Königsberg, wurde durch das Volkslied „Ännchen von Tharau“ berühmt ist. Es tritt dem Betrachter hier kein prächtiges Barockschloß entgegen, sondern ein langgestreckter Bau, über dessen einzigem Geschoß sich ein Mansarddach wölbt. Gegliedert wird der Baukörper durch einen zweigeschossigen, fünf Achsen breiten Mittelrisalit mit Dreiecksgiebel, nach barocker Bauart symmetrisch ausgerichtet. Er wirkt durch und durch streng und asketisch.

Weitaus lieblicher und ansprechender mit seinem weniger breit gelagerten Baukörper präsentiert sich das kleinere Gutshaus Schettnienen. Bei dem neunachsigen Gebäude erhebt sich über einem Erdgeschoß ein Mansardwalmdach, wobei der dreiachsige Mittelteil auf Garten- und Hofseite einzig durch die zweigeschossige Ausführung und das darübergezogene Schleppdach betont werden. Wer auf die Bilder der Inneneinrichtung blickt, sieht, daß solche Häuser die geistigen Zentren der Provinz waren.

Wie so häufig endet die Geschichte ostpreußischer Herrenhäuser auch im Fall Schettnienens mit dessen völliger Zerstörung. Es überstand zwar die schweren Kämpfe in jener Gegend und wurde noch bis um 1985 durch die sowjetischen Grenztruppen genutzt, danach wurde es vollständig abgetragen. Aber nicht nur in Ostpreußen und Ostdeutschland, auch überall in Mitteldeutschland haben Schlösser und Herrenhäuser gerade nach 1990 gelitten, und Hunderte sind nach der Nutzungsaufgabe und Nichtrückgabe an die Eigentümer zu Ruinen zerfallen. Aber was geistig bewahrt wurde, kann körperlich immer wieder errichtet werden, sei es in Ostpreußen oder sei es in Brandenburg. Und dies wäre kein Phantasienachbau, da es im alten Geist, nach altem Plan, mit zeitgemäßen Baumitteln und am authentischen Ort wiederersteht.

Große Namen wie Friedrichstein, rund fünfzehn Kilometer pregelaufwärts von Königsberg an dessen Südufer gelegen, sucht man in Wagners Buch vergeblich. Hierfür sei auf das Standardwerk „Landschlösser und Gutshäuser in Ost- und Westpreußen“ von Carl von Lorck verwiesen. Aber Wagners Ansatz einer kompendiösen Darstellung auch unter Einbeziehung der Interieurs ist innovativ, da der Informationsgehalt deutlich gesteigert werden kann. Wichtig ist für die Vertreibungsgebiete insgesamt, von einem reinen „Weißt du noch ...“-Stil wegzukommen. Mit solcher Erinnerungsgeschichtsschreibung wird niemand außer der Erlebnisgeneration angesprochen, und mit ihr kann letztendlich auch niemand außer der Erlebnisgeneration etwas anfangen. Ohne eine neue Art der Aufbereitung des ostdeutschen Erbes wird Ostdeutschland zwangsläufig auch als geistiges Eigentum und als Teil deutscher Kultur verloren gehen.

Unabhängig von der politischen Zuordnung nach 1945 bleibt Ostdeutschland für uns konkrete Verantwortung. Auch das heutige Deutschland ist geistig ohne Königsberg, Breslau oder Stettin nicht vorstellbar, nicht ohne die Kulturprovinzen Ostpreußen, Schlesien oder Pommern, nicht ohne ihre Menschen und nicht ohne ihre Bauten.

 

Fototext: Gutshaus Tharau: Das durch das ostpreußische Volkslied „Ännchen von Tharau“ berühmt gewordene Gut wurde ebenso wie der gesamte Ort in der sowjetischen Zeit vollkommen zerstört und abgetragen

 

Wulf Wagner: Stationen einer Krönungsreise - Schlösser und Gutshäuser in Ostpreußen (Katalog zu Ausstellung), Selbstverlag, Berlin 2001, 143 Seiten, 29 Mark, zu beziehen über den Verfasser, Postfach 212001, 10514 Berlin


 
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