© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Ein Pfad durch das kulturelle Dickicht
Metzlers neues Lexikon unternimmt den Versuch einer Systematisierung der gegenwärtigen Kultur
Wolfgang Saur

Am Abend des 19. Juli veranstaltete der Aktionskünstler Wolfgang Flatz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg eine Performance, die viel Interesse auf sich zog. Er ließ dort ein totes Rind von einem Hubschrauber aus 40 Meter Höhe abwerfen, das unten - von einer staunenden Menschenmenge umringt - aufschlug und explodierte. Er selbst schwebte danach, blutüberströmt, wie ein monströser Engel von oben herab, um alsbald in skuriller Manier sein „Projekt Fleisch“ zu erläutern. Ich sah mir das Spektakel in den Spätnachrichten an. Danach zappte ich durch die Programme: Die eine Hälfte brachte amerikanische Serien und auf den restlichen Kanälen - Werbezeit! - räkelten sich laszive Schönheiten vor der Kamera, die unaufhörlich zum Anruf einluden. Ich drehte ab und wandte mich wieder meiner Lektüre zu: In „Von wunderbaren Büchern“ beschrieb der Schweizer Verleger und Orientalist Titus Burckhardt seine Erfahrungen mit der Edition mittelalterlicher Handschriften und erläuterte deren kostbare Symbolik.

Was das alles miteinander zu tun hat? Gar nichts, außer daß es zur zeitgenössischen „Kultur“ gehört und in ihrer undefinierbaren Gesamtheit irgendwo eine Stelle besetzt. Triviale TV-Unterhaltung, avantgardistische Experimente für ausgebuffte Kenner oder die geistfromme Meditation einer sakral qualifizierten Kulturidee stehen hier unvermittelt nebeneinander und reflektieren die aktuelle Situation. Deren „Unübersichtlichkeit“ macht es auch schwierig, im traditionellen Sinn nach Hoch- und Trivialkultur zu differenzieren, eine kohärente Anschauung von Gegenwartskultur noch zu entwickeln. Eine solche könnte es nämlich nicht bloß bei der Konstatierung divergierender Inhalte belassen, sondern müßte, metakritisch, den „Prinzipienpluralismus“ (Arnold Gehlen) einander konkurrierender ästhetischer Modelle und deren Konstitutionsbedingungen rekonstruieren. Das aber sprengt die Darstellungsform herkömmlicher Kulturhistorie.

Im Metzler-Verlag ist jetzt ein gewichtiges Handbuch erschienen, das sich dieser Herausforderung auf neuartige Weise nähert. Das Lexikon „Kultur der Gegenwart“, ein Kollektivprojekt, unternimmt in 600 Stichwörtern von „Abstrakter Kunst“ bis „Zynismus“ eine Erkundung kultureller Phänomene seit 1945, nicht erzählerisch und verlaufsorientiert, sondern durch Strukturbegriffe, die Themenfelder erschließen und ein vielgestaltiges Mosaik aufbauen. Die ästhetische Strukturform der Montage soll hier ein enzyklopädisches Projekt methodisch fundieren und dabei Widersprüchliches multiperspektivisch und dezentral synchronisieren. Darin spiegelt sich die Pluralisierung und Aufsplitterung des traditionellen Kulturbegriffs.

Gegenstand ist die westlich-atlantische Kultur mit Schwerpunkt Deutschland. Da gibt es Medien (Buch, Computer), ästhetische Gattungen (Jazz, Roman), künstlerische Genres (Actionfilm, Agitprop), Bewegungen (Existenzialismus, Feminismus), Gruppen (Beats, 68er) und Milieus (Selbsterfahrung), Leitwerte und Reizworte (Experiment, Fundamentalismus, Emanzipation), politische Ereignisse und Diskussionen (Golfkrieg, Kommunitarismus), Theoriekonzepte und Forschungsfelder (Elite, Code). Die theorielastigen Begriffe entfalten dabei ein beträchtliches analytisches Potential, was den Band empfehlenswert macht, seine im Vorwort angepriesene „leichte Lesbarkeit“ jedoch torpediert. Der Text dokumentiert vielmehr die enorme theoretische Aufrüstung der Geistes- und Sozialwissenschaften seit den sechziger Jahren. Die Zeit der Naivität und Unmittelbarkeit scheint endgültig vorüber, so voraussetzungsschwer und vernetzt stellen sich die Dinge dar. Vor „Wesensschau“ und „Wahrheitserkenntnis“ haben die Götter heute den Diskurs gesetzt, in dem die Probleme sich objektivieren und gesellschaftlich vermitteln, nicht zuletzt auch politisieren.

Perspektivische Verkürzung, die weiter Entlegenes ausblendet, modelliert die Diskurslandschaft in diesem Band und blickt zurück aus dem Horizont der achtziger und neunziger Jahre, in dem Aspekte dominieren wie neue Medien, Globalisierung, Erlebnisgesellschaft. Die kulturellen Positionen der Fünfziger erscheinen auffällig fragmentiert.

Als erfreuliches Beispiel erweist sich immerhin die gescheite Information über die künstlerischen Formen des absurden Theaters, das auf die moderne Entfremdungserfahrung angesichts des totalitären Staates, des Krieges und der Atombombe reagierte. Die Übermächtigung des Menschen durch anonyme Rationalisierung und technische Superstrukturen wird auch in der Kulturkritik artikuliert, deren Motive in Artikeln wie „Antimoderne“, „Aufklärung“ oder „Amerikanisierung“ erscheinen. Nach 1945 etwa im Rahmen der Existenzphilosophie oder der Kritischen Theorie lebendig, erscheint Systemkritik heute generell als demokratisch anrüchig und fundamentalistisch. Nichts zeugt mehr von rigoroser Geschichtsteleologie als diese wachsende Tabuisierung.

Modernisierung und deren Kritik handeln auch stets von einer Auseinandersetzung um den Vernunftbegriff. Eine „Dialektik der Aufklärung“ ist heute auch deshalb schwierig geworden, weil die Kulturwissenschaften den metaphysischen Geistbegriff der idealistischen Tradition kassiert haben. Das gilt erst recht vom christlichen Bezugspunkt und einer religiösen Denkweise, aus der heraus sich noch substantielle Alternativen entwickeln ließen. Ein Stichwort „Religion“ gibt es im Buch überhaupt nicht, und nach einer Auseinandersetzung mit dem Adjektiv „christlich“ sucht man vergebens. Der gesamten Nachkriegsliteratur wird vielmehr ihr „Rückgriff auf christliche oder mystische Sinnstiftung“ vorgeworfen und diese Tendenz als „eskapistische Trostfunktion“ denunziert.

Von 600 Abhandlungen beziehen sich gerade noch fünf auf den religiösen Aspekt überhaupt. Außerchristliche Weltanschauungskonzepte werden, durchaus intelligent und umsichtig, in den Artikeln Esoterik, Mythos, New Age und Zen referiert. Die christliche Tradition beschränkt sich auf das Stichwort Kirchen. Deren heutige Situation wird dort systematisch erfaßt in den drei Aspekten der „Säkularisierung“, der „ökumenischen Idee“ und der „Entfaltung eines pluralen Selbstverständnisses“. Damit hat sich’s dann auch. Nach Vatikanischem Konzil oder „christlichem Abendland“ sucht man vergebens, selbst der Atheismus ist verschwunden. Diese Marginalisierung des Religiösen besiegelt enzyklopädisch noch einmal die Eskamotierung Gottes aus unserer Welt. Für unsere intellektuelle Elite existiert der transzendente Aspekt des Lebens praktisch nicht mehr. Gleichzeitig wird das Tragische entsorgt, das Publikum soll vielmehr „zur kritischen Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderbarkeit geführt werden“. So die Meinung Brechts, dessen episches Theater den Paradigmenwechsel beispielhaft vorführte. Philosophisch hat das hier seine Entsprechung im Verschwinden der Klassiker. Den interpretatorischen Referenzrahmen bestimmen dagegen - neben Kant - im wesentlichen die Namen Benjamin, Adorno, Derrida, Popper, Habermas, Luhmann, Foucault, Umberto Eco.

Der posttraditionalen, offenen Gesellschaft Poppers entspricht die offene Form der modernen ästhetischen Produktionsweise. Erscheint der Moderne alle Tradition per se als geschlossen, statisch und autoritär, Ausdruck eines hierarchisch geordneten Kosmos, so verwirft speziell die zeitgenössische Ästhetik Versöhnung und Kontemplation und favorisiert Montage und Schock. Nach der klassischen Avantgarde führt die Postmoderne diese Prinzipien auf neue Weise fort. Als ihre zentralen Merkmale erscheinen: Auflösung des Kanon, Fragmentierung und Pluralisierung, Dekonstruktion und Ironie, Travestie und der „Verlust von ’Ich‘ und ’Tiefe‘“. Beispielhaft hierfür in der Architektur Stirlings Stuttgarter Staatsgalerie (1982) oder die fraktalen Strategien, also Verfremdungseffekte des Regietheaters - jenseits der „Werktreue“ des älteren „Worttheaters“.

Das vollzieht sich in einem Zeitalter der Beschleunigung und wachsenden Kommerzialisierung, in dem die Nationalstaaten als potentielle „Standorte“ um die Gunst weltweiter Kapitalien konkurrieren. Intelligent wird das analysiert im Stichwort Globalisierung. Der Markt wird heute zu einer neuen Totalität, einer letzten Wirklichkeit, einem mythischen Subjekt, das die Stelle Gottes einnimmt und dessen erstes Gebot „Grenzüberschreitung“ heißt. Dieser andauernde Prozeß beendet das alte Paradigma von der Entgrenzung qua Befreiung und erzeugt neuen Zwang. Anthropologische Kritik hat hier das Illusorische eines verabsolutierten Imperativs no limits aufzuweisen. Die allgegenwärtige Denunziation positiver Identität, zu deren Selbstbestimmung stets auch Abgrenzung gehören wird, erodiert das Humanum selbst. Eine modische Erscheinung der pausenlosen Grenzüberschreitung, des „flexiblen Individuums“ (Sennett), ist heute die Androgynität, die mit ihren Spielereien das Geschlechtliche vollends banalisiert, immerhin eine plausible Strategie des Self-Marketing sein mag. Härter wird zugelangt in den Gender Studies, die sich seit den Siebzigern ausgebreitet haben und von der fundamentalen Unterscheidung nach sex (biologisches Geschlecht) und gender (Geschlechtszuschreibung als kulturelles Konstrukt) ausgehen.

Ob die Sexualisierung aller Diskurse dann im Zeichen des Gleichheits- oder des Differenzpostulats steht, erscheint letztlich vor der Tatsache des demokratischen Dauerkonflikts und dem unabgeschlossenen Ringen um Machtchancen sekundär. Hierfür empfehlen uns die angelsächsischen Vordenker im Artikel „Politische Kultur“ ein möglichst pragmatisches Verständnis der civic culture: Politik bestehe in der Regelung von Differenzen nach dem Modell des Markts (Verhandlung), des Labors (Experiment), des Spiels (fun) und des Sports (fairness). Vormoderne und totalitäre Milieus, aber auch die kontinentale Tradition seien in den Wahrheitsaspekt verstrickt und „qualifizierten“ ihre Konflikte dysfunktional.

Diese Empfehlung gehört ins Meinungsspektrum eines Bandes, der Beachtliches leistet und die polymorphe Kulturproblematik der westlichen Welt perspektivenreich auf höchstem Niveau erschließt. Was heute unsere kulturwissenschaftlichen Eliten reflexiv zu leisten imstande sind, erhält man hier geboten. Das vollzieht sich in einer Rahmensituation, die durch eine absolute Verzeitlichung und Vergesellschaftung des Lebens, mithin aller Kulturbildung, charakterisiert ist. Nachdem der Singular anachronistisch wurde, sollten wir nur noch von „Kulturen“ sprechen, wie sie uns der Multikulturalismus in der individualistischen Spätmoderne beschert. Doch bei aller quantitativen Reichhaltigkeit von „Unternehmenskultur“ bis „Fuckparade“ zeichnet sich eine eigentümliche Hermetik des in sich selber Kreisens ab. Ohne übernatürliche Verheißung, ja ohne jede den sozialen Prozeß transzendierende Idee überhaupt bleibt der geistige Beitrag der westlichen Moderne vor dem Antlitz der Geschichte seltsam stumm, eigentümlich blind auch gegenüber den außereuropäischen Kulturen, die man in euphorischer Dialogfreudigkeit zu umarmen doch ständig vorgibt. Das läßt vielleicht etwas erahnen von der verschwiegenen Totalität des antitotalitären Liberalismus selbst.

 

Metzlers Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Herausgegeben von Ralf Schnell. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 2000, 565 Seiten, Ln., 58 Mark


 
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