© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001


Fatale Drohung
von Alexander Barti

Moderne politische Systeme beruhen auf einer kodifizierten Verfassung. Es ist unmöglich, für alle politischen Situationen eine Verhaltensregel vorzuschreiben, denn alles fließt, verändert und entwickelt sich. So bilden sich die „ungeschriebenen Gesetze“, an die man sich zu halten hat, wenn man nicht die „ungeschriebenen Sanktionen“ spüren will.

Die Gewissensfreiheit des Abgeordneten ist im Grundgesetz verbrieft, der Fraktionszwang ist es nicht. Daß sich bei einem modernen Parlamentsbetrieb nicht alle Abgeordneten in alle Themenbereiche einarbeiten können, ist klar. Die geschlossene Abstimmung nach Fraktionen ist daher oft unvermeidlich. Wenn es aber um die Frage geht, ob man die eigenen Soldaten zu einer gefährlichen Mission entsendet, darf man den Abgeordneten eine genaue Prüfung der Materie unterstellen. Und wenn dann etliche Abgeordnete - auch aus dem Regierungslager - ihrem Gewissen folgend gegen den Truppeneinsatz stimmen, sollte der „Ungehorsam“ als Ausdruck einer funktionierenden Volksvertretung gelten. Leider sieht die Wirklichkeit anders aus. Den „Abweichlern“ aus der SPD wird von ihrem Fraktionschef Müntefering offen mit dem Verlust ihres Mandats bei der nächsten Wahl gedroht, ohne daß sich ein Sturm der Entrüstung erhebt. Das ist ein schlechtes Zeichen, beweist es doch, daß dem Bürger egal ist, was „die da oben“ machen. Die „Gewissensfreiheit“ steht auf dem Papier und ist offenbar weniger wert als ein illegaler Verhaltenskodex. Die Zeiten ändern sich.


 
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