© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
„Jawohl: Diktatur!“
Wo Rosa Luxemburgs Satz von der Freiheit der Andersdenkenden seinen Ursprung hat
Hermann Schubart

Seit etlichen Jahren hat ein Wort der linksradikalen Theoretikerin und Agitatorin Rosa Luxemburg einen beträchtlichen Anklang in der politischen Landschaft Deutschlands gefunden. Es ist der häufig zitierte Satz: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Dieses Zitat wird von Linksradikalen, Linken, Linksliberalen und Liberalen der verschiedenen Schattierungen immer wieder als Ausdruck der wahren und korrekten politischen Gesinnung aufgegriffen und verständnisinnig weitergereicht. Selbst Politiker rechts von der Mitte greifen es zustimmend auf. Rosa Luxemburg als Vertreterin einer echten liberalen Gesinnung, dieses Bild ist durch dieses Zitat nachhaltig beeinflußt oder vielleicht sogar erst geschaffen worden. Aber wo hat dieser Satz seinen Ursprung? Wo steht er überhaupt? In welchem Zusammenhang bekommt er seine eigentliche Bedeutung?

Dieser Satz steht in einem unvollendeten Manuskript, in dem Rosa Luxemburg sich mit dem bolschewistischen Staatsstreich 1917 in Rußland und der Regierungspraxis Lenins auseinandersetzt. Von den verschiedenen Herausgebern hat dieses Manuskript dann die Überschrift „Die russische Revolution“ bzw. „Zur russischen Revolution“ erhalten.

Der Text ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt rühmt sie die Bolschewisten wegen ihres welthistorischen Experiments, bei dem ihnen allerdings nicht alles vollkommen gelungen sei. Im zweiten arbeitet sie als deren Ziel die „Alleinherrschaft der radikalsten Partei“ heraus und betont „die ganze Macht in (den) Händen der ... Sowjets“, wobei sie Kautsky und Scheidemann scharf kritisiert. Nicht mit Mehrheiten sei die Diktatur des Proletariats zu erreichen, sondern nur mit der revolutionären Taktik gelange man zur Mehrheit und dem Endziel des Sozialismus. Im dritten Abschnitt kritisiert sie Lenin scharf wegen der Fehler bei der Bodenenteignung und dem Vorgehen gegenüber den Nationalitäten, wobei sie sich vehement gegen das Selbstbestimmungsrecht in Position bringt. Der vierte Abschnitt nun beschäftigt sich unter anderem mit dem „Mechanismus der demokratischen Institutionen“. Ihr Ideal ist dabei eine dauernde Wechselwirkung zwischen den Gewählten und der Wählerschaft und der ständige Einfluß der Stimmung der Massen auf die gewählten Körperschaften.

Lenin wirft sie die Beseitigung der Demokratie vor, sie selbst vertraut auf die breiten Volksmassen. Daß Lenin das Wahlrecht nur auf bestimmte Gruppen einschränkte, wird von ihr ausdrücklich gutgeheißen, denn das Wahlrecht ist „kein ernsthaftes Werkzeug der proletarischen Diktatur“; dieses verschiebt sie auf die Zukunft. Alle Mittel des Drucks gegen Bürgerliche seien erlaubt, „um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen“. Mit Lenin ist sie für Pressefreiheit und freies Leben in Vereinen und Versammlungen, aber nicht für Bürgerliche. Für die Herrschaft breiter Volksmassen sei ein gesundes öffentliches Leben nötig (das Trotzki aber abgewürgt habe), doch es müsse zur Erziehung der ganzen Volksmasse eine politische Schulung vorangehen, dies sei auch bei den Bolschewiken nötig gewesen. Nun fällt der in Frage kommende Satz von der Freiheit der Andersdenkenden.

Zunächst fällt auf, daß er in der wissenschaftlichen Ausgabe ihrer Schriften nur in einer Fußnote erscheint! Im Original des Manuskriptes steht dieser Gedanke nur als Bemerkung „am linken Rand ohne Einordnungshinweis“, das bedeutet, daß er nicht im ursprünglichen Textzusammenhang geschrieben, sondern als späterer Nachtrag hinzugefügt worden ist. Die Plazierung dieses häufig zitierten Satzes in einer Fußnote durch die Herausgeber der „Gesammelten Werke“ (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED) ist wissenschaftlich korrekt, denn sie entspricht dem ursprünglichen Text.

Auch wenn Rosa Luxemburg diesen Zusatz nicht punktgenau in den ursprünglichen Text eingefügt hat, so ist doch klar, an welcher Stelle sie ihn hat haben wollen. Es ist die Stelle, wo sie von der „intensivsten politischen Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung“ spricht. Freiheit ist für sie also offenbar nur dann sinnvoll, wenn diese Schulung vorausgegangen ist. Eine so präparierte Volksmasse werde dann „in Freiheit“ schon in ihrem, das heißt Luxemburgs Sinne das Richtige entscheiden und den Fortschritt zur Diktatur des Proletariats voranbringen. Mit der Distanzierung in dieser Frage von Lenin und Trotzki wird auch ein eigener Führungsanspruch deutlich.

Für die Machthaber in der früheren DDR kann dieser Befund über das Manuskript nicht ganz so unwillkommen gewesen sein, denn so konnte dem Lesepublikum damals, sofern es auf den Gedanken gekommen wäre, nun unter Berufung auf Rosa Luxemburg Freiheit einzufordern, deutlich gemacht werden, daß solche liberal-demokratischen Anwandlungen eben nur Nebengedanken gewesen und an bestimmte Voraussetzungen gebunden seien.

In der 1968 in der Bundesrepublik erschienenen Ausgabe der „Politischen Schriften III“ ist der fragliche Satz aus dem minderen Rang einer Randbemerkung in den ursprünglichen durchlaufenden Textzusammenhang hinaufgehoben worden. Dies ist insofern eine Verfälschung, als diese Vorgehensweise durch den Herausgeber Ossip K. Flechtheim auch nicht andeutungsweise gekennzeichnet wird. Er kann zwar für sich in Anspruch nehmen, daß es sich um ein unvollendetes Manuskript handelt. Aber er präsentiert hier dem Lesepublikum im Westen eine Rosa Luxemburg, wie er sie offensichtlich gern hätte, denn wie sie bei einer nochmaligen Durcharbeitung des Textes zu einem späteren Zeitpunkt und in einer anderen Situation anläßlich einer Veröffentlichung ihres Manuskriptes mit den Randbemerkungen verfahren wäre, ist reine Spekulation.

Im übrigen läßt Rosa Luxemburg keinen Zweifel an ihrem politischen Hauptziel, nämlich der Diktatur des Proletariats, aufkommen. Sie bekräftigt dies am Ende des Abschnitts IV auch noch mit einem wiederholenden Ausruf: „Jawohl: Diktatur!“ Diese Auffassung zieht sich als Konstante in ihrem Denken zum Beispiel von ihrer Schrift „Sozialreform oder Revolution“ (1899) bis hin zum Programm des Spartakusbundes vom 14. Dezember 1918 in der Roten Fahne. Bei der Errichtung der Diktatur des Proletariats in einem von ihr gewollten Bürgerkrieg in Deutschland gilt für den Feind nur: „Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust“.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen