© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Berufung
Karl Heinzen

Das neue Übernahmegesetz hat auch die Interessen von Kleinaktionären im Auge, indem es ihnen eine klarere Orientierung über ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten verschafft: Sehen sie sich einem Kapitaleigner gegenüber, der 95 Prozent oder mehr an der Gesellschaft hält, so brauchen sie sich fortan auf kein Kräf­temessen mit diesem einzulassen. Er kann sie, wenn ihm der Sinn danach steht, aus dem Unternehmen herausdrän­gen. Über die Höhe der Abfindung ent­scheidet die Aktionärsversammlung, eine Regelung, die nebenbei auch die Wert­schöpfung im Segment juristischer Dienstleistungen fördern könnte.

Demütigungen, wie sie die Akteure der Mannesmann-Übernahme jüngst noch durch das verbliebene Häufchen intransigen­ter Restaktionäre erdulden mußten, werden in Zukunft so manchem Vorstand oder Aufsichtsrat erspart werden können. We­nigstens die Unternehmen mit ganz kla­ren Mehrheitsverhältnissen dürften ab dem Jahr 2002 schon einmal zu verhin­dern wissen, daß ihre Politik in unkontrollierter Weise in der Öffentlichkeit breitgetreten wird. So sehr das Gesetz auch darauf zielen mag, bloß die Voll­endung von Übernahmen zu erleichtern, so deutlich sind aber zugleich die Signale, die es über seinen konkreten Zweck hinaus setzt: Die Zeit, in der man sich alle Mühe gab, jeden Kapitalbesitzer ungeachtet der Höhe seines Vermögens ernst zu nehmen, ist an ihr Ende gekommen. Die Bigotterie eines Shareholder-Egalitarismus macht end­lich einem gesunden Realismus Platz, der die Klassengrenzen nicht allein in antiquiert schematisierender Weise zwischen Kapital und Arbeit gut aufge­hoben wähnt, sondern diese grundsätz­lich auf die Spaltung der Gesellschaft in oben und unten, in reich und nicht reich zurückzuführen weiß.

Eine Destabilisierung unserer Ordnung ist durch diese Klärung nicht zu befürchten. Auch in einer Marktwirtschaft ist es nämlich nicht per se schädlich, wenn die Menschen erkennen können, wie bescheiden und aussichtslos in den allermeisten Fällen ihre soziale Lage im Vergleich zu jener der Eliten ist. Sie müssen allerdings bereit sein, sich daran zu erinnern, worauf sie wirklich hoffen durften: Der Kapitalismus hat ihnen bloß versprochen, daß er, um sie von Ungerechtigkeiten gegenüber den Reichen abzuhalten, ihren Lebensstandard hebt. Von einem Ende oder wenigstens einer bloß stagnierenden Zu­nahme der Ungleichheit war, sollte sie auch suggeriert worden sein, nie wirk­lich die Rede.

Zu lange haben sich zu viele Durch­schnittsverdiener als Kleinkapitalisten aufgeführt, bloß weil sie ihre durch Arbeit erworbenen und daher nicht nennenswerten Rücklagen nicht konsumiert, sondern „investiert“ hatten. Solche Rollenspiele sind in ei­ner Ökonomie mit gesicherten Eigentums­rechten dort, wo es sich lohnt, von Ei­gentum zu sprechen, deplaziert. Der Bo­den für den Mentalitätswandel ist bereitet: Die meisten Kleinanleger haben in den vergangenen Monaten gelernt, daß ihre wahre Berufung die Arbeit bleibt.


 
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