© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Der Kampf um die Begriffe hat begonnen
Nationale Identität IV: Ist der Vorstoß von Unionspolitikern nur Worthülse oder kann die Diskussion mit Inhalten gefüllt werden?
Michael Wiesberg

Es wäre eine eigene Betrachtung wert, warum Politiker wie Roland Koch, Friedrich Merz und Guido Westerwelle gerade zum jetzigen Zeitpunkt das Thema „nationale Identität“ entdeckt haben. Eine Rolle könnte gespielt haben, daß es Anzeichen für eine nationale Selbstbesinnung im Zuge von Osterweiterung der Europäischen Union und Euro-Einführung gibt. Auslöser der neuerlichen Debatte um das Thema „nationale Identität“ ist der hessische Ministerpräsident Koch, der erklärte, diesen Begriff 2002 zu einem zentralen Wahlkampfthema machen zu wollen. Zustimmung erhielt Koch von dem FDP-Vorsitzenden Westerwelle, der einen „Dialog über die nationale Identität“ führen will. Man müsse, so Westerwelle, in Deutschland sagen können, daß man „stolz auf das eigene Land“ sei, ohne „in eine rechtsradikale Ecke geschoben zu werden“.

Auch der Unions-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Friedrich Merz, pflichtete Koch bei. Die Erörterung der „nationalen Identität“ sei wichtig, um den „inneren Zusammenhalt der Gesellschaft“ zu klären, sagte Merz. Es gehe um die Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders in Deutschland. Und der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann konstatierte, Koch artikuliere mit seinem Vorstoß ein „Gespür für den Seelenzustand der Mehrheit der Unionsanhänger“.

Dem Vorstoß von Koch, Merz und Westerwelle muß mit Skepsis begegnet werden, weil sie Parteien angehören, die in 16 Jahren Regierungszeit viel dazu beigetragen haben, die letzten Reste von nationaler Identität, die den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg noch verblieben sind, zu tilgen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang vor allem an die Europäisierung der deutschen Frage mittels des Maastrichter Vertrages, der eindeutig eine französische Handschrift trägt. Oder an die jetzt bevorstehende Einführung des Euro, die eines der letzten nationalen Symbole der Deutschen, die D-Mark, in den Orkus der Geschichte verbannen wird. Dies führt zu der Frage, woraus die Deutschen, die es noch sein wollen, eigentlich so etwas wie eine nationale Identität ableiten sollen. Aus der durch und durch amerikanisierten Kultur unserer „Gesellschaft“ etwa? Aus sportlichen Erfolgen? Diese Zeiten sind längst vorbei; zudem ersetzen mehr und mehr ausländische Sportsöldner nationale Identifikationsfiguren. Deutsche Sportler sind in den Mannschaftssportarten häufig in der Minderzahl. Dies wird in der Regel auch für gut und richtig befunden. Wir leben schließlich in einer „multiethnischen Gesellschaft“.

Diese „multiethnische Gesellschaft“ ist der jeden Tag sichtbarer werdende Ausdruck einer radikalen Antithese zur nationalen Identität: der Doktrin des Universalismus. Dieser kenne, so Hans Magnus Enzensberger, „keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und abstrakt“. Die Idee der Menschenrechte erlege „jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist ... Jeder soll für alle verantwortlich sein“. Dieser Universalismus korrespondiert nicht zufällig mit den Lehren, die viele „aufgeklärte“ Deutsche aus der jüngeren deutschen Geschichte meinen ziehen zu müssen. Der Staatsrechtler Josef Isensee erkannte hierin einen „Negativpatriotismus“, der der Grund dafür sei, „daß die Deutschen, die sich im Spiegel ihres Selbstverständnisses als so abstoßend erkennen, versuchen, ihrer Herkunftsidentität zu entkommen und eine neue, unbelastete Identität als Europäer oder als Kosmopoliten zu finden“. Wie der „Homunculus im ’Faust‘“ versuchten die Deutschen, „die bergende Schale zu zerbrechen und mit kurzer Leuchtspur im All aufzugehen“.

Wer „nationale Identität“ sagt, muß deshalb Nein zum Universalismus sagen, soll die ganze Diskussion, wie schon bei der Leitkulturdebatte vorexerziert, nicht in beliebigem Geschwätz versanden. Genau dies steht aber zu befürchten. Es ist bereits die gewählte Begrifflichkeit, die anzeigt, daß die christdemokratischen Wortführer, die mit Begriffen wie „Leitkultur“ und „nationaler Identität“ herumhantieren, nicht wissen, worüber sie eigentlich reden.

So spricht zum Beispiel Hohmann von der „nationalen Identität“ als einem „positiven Standortfaktor“. Es ist bezeichnend, wie hier ein spiritueller Begriff in Kategorien ökonomischen Vernutzungsdenkens gefaßt wird. Der Totalökonomisierung aller Lebensverhältnisse im Zeichen der Globalisierung kann auch die nationale Identität dienlich sein, sofern sie als renditesteigernd erkannt wird. Merz räsoniert davon, daß die Erörterung der „nationalen Identität“ wichtig sei, um den „inneren Zusammenhang der Gesellschaft“ zu klären. Dabei ist es ja gerade der Begriff der „Gesellschaft“ als „Matrix der Daseinsdeutung“, mittels dessen alle geschichtlichen Daseinsformen wie Nationen, Völker und Kulturgemeinschaften ihrer jeweiligen Eigenart beraubt worden sind, um, wie es der Sozialwissenschaftler Friedrich Tenbruck ausdrückte, auf das „Normal-Null von Gesellschaftsstrukturen hinuntergeschleust zu werden“. Der entortete „Mensch“, der zufälliges Mitglied einer „Gesellschaft“ ist, kennt keine Herkunft und keine Zugehörigkeit. Er ist überall und nirgends zu Hause.

Wer ernsthaft über nationale Identität reden will, muß zuerst einmal den „Kampf um die Begriffe“ führen. Er muß die Auseinandersetzung um die Frage nach den Standards, wie öffentlich geredet und gedacht werden darf, annehmen. Er muß Begriffe wie „Person“, „Sittlichkeit“, „Gemeinschaft“, „Nation“, „Kultur“, „Geschichte“ oder „Delinquenz“ wieder fruchtbar machen und andere Begriffe wie „Rolle“, „Systemprozeß“, „Devianz“ oder „Selbstverwirklichung“ außer Kurs zu setzen versuchen. Diese Auseinandersetzung muß geführt werden, weil Nation, Sittlichkeit, Geschichte und Kultur im universellen Raster der „Gesellschaft“ keinen Platz haben. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, daß bestimmte Begriffe im „öffentlichen Diskurs“ nicht mehr vorkommen, ja als verpönt gelten. Ohne daß es den Deutschen bewußt geworden sein dürfte, wurden ihnen mittels des Gesellschaftsbegriffes bestimmte Fragen an die Wirklichkeit schlicht abgewöhnt. Wer diese Fragen dennoch stellt, wird aus dem gesellschaftlichen Diskurs schlicht ausgeschaltet.

Alle diese Überlegungen zeigen, daß eine offene Debatte um den Begriff der nationalen Identität von substantieller Bedeutung für die Zukunft Deutschlands wäre. Daran dürfte aber denjenigen Politikern, die die Identitätsfrage wahlkampftaktisch zu instrumentalisieren trachten, nicht gelegen sein. Sie sind nicht an der Frage der nationalen Identität, sondern an kurzfristigen Wettbewerbsvorteilen in der politischen Auseinandersetzung interessiert. Die Konservativen im Lande sind deshalb nachhaltig aufgefordert, dieses Thema nicht mehr ruhen zu lassen. Die Herren Koch und Merz müssen mit den Konsequenzen ihres Vorstoßes konfrontiert werden.


 
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