© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Blutgetränkte Erde am Kaukasus
Armenien II: Ein Völkermord, der vom Deutschen Bundestag nicht anerkannt wird
Michael Paulwitz

Der Mythos will, daß auf dem heiligen Berg der Armenier, dem Ararat, Noahs Arche nach der Sintflut aufsetzte. Im Jahr 301 wurde Armenien der erste christliche Staat der Welt; von hier zogen Missionare bis Deutschland. Armenien ist biblisches Land.

Die Armenier zählen zu den ältesten Völkern dieser Erde - nach ihrer eigenen Überlieferung waren sie die ersten Menschen, die nach der großen Flut die Erde wieder besiedelten. Im sechsten Jahrhundert v. Chr. betraten indogermanische Eroberer den Boden des von den Skythen überrannten alten Königreichs Urartu, das auf hebräisch Ararat heißt. Sie nannten sich „Hayq“, „Herren“, und gründeten eine neue Zivilisation. Von den Medern, unter deren Einfluß sie bald gerieten, bekamen sie den Namen „Armenier“. 550 v. Chr. wurde Armenien Teil des persischen Reiches.

Perser und Makedonen, Römer und Byzantiner, Parther und Sassaniden, Araber und Seldschuken, Tataren, Mongolen und Türken kämpften um dieses Land und brachten es zeitweise unter ihre Herrschaft. Den Gipfel seiner Macht und Ausdehnung erreichte Armenien unter König Tigranes II. dem Großen (95 - 65 v. Chr.). Unter seiner Regierung gebot Armenien über Syrien und Teile des Partherreiches und erstreckte sich bis zum Mittelmeer. Ein Bündnis machte Armenien von Rom abhängig, das hinfort mit Parthern und Persern um dieses Land stritt. 390 wurde Armenien zwischen Byzanz und Persien geteilt. In Kilikien gründeten Flüchtlinge, die von den Seldschuken vertrieben worden waren, den Staat Kleinarmenien, der eng mit den Kreuzfahrern verbunden war. 1375 erlag er den ägyptischen Mameluken. Auf ein turkmenisches und persisches Zwischenspiel folgte 1514 die Eroberung durch Osmanensultan Selim I. Das Land wurde zwischen Türken und Persern geteilt, von einem Intermezzo im 18. Jahrhundert abgesehen, war die armenische Unabhängigkeit bis zum 20. Jahrhundert beendet. Erst 1920 entstand eine armenische Republik, die als Teil der „Transkaukasischen Republik“ schon 1922 der Sowjetunion einverleibt wurde. Die 1936 gegründete Armenische Sowjetrepublik wurde 1990 unabhängig, begleitet von heftigen Kämpfen um die Exklave Berg-Karabach im benachbarten Aserbaidschan.

Der russische Vormarsch im Kaukasus machte die „armenische Frage“ zum Gegenstand der internationalen Politik. 1828 eroberte Rußland den Norden von Persisch-Armenien mit der Hauptstadt Eriwan, 1877-78 das Gebiet von Kars und Batum in Osmanisch-Armenien.

Rund zweieinhalb Millionen christliche Armenier lebten Ende der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts im osmanischen Reich. In den östlichen Provinzen bildete sich, von Rußland ermuntert, eine Unabhängigkeitsbewegung; 1887 und 1890 formierten sich armenisch-revolutionäre Parteien. Sultan Abdülhamid II. stachelte die benachbarten Kurden gegen die christlichen Armenier auf, die er zudem mit Strafsteuern bedrückte. Ein Steuerstreik führte zum ersten Massaker 1894, in dem reguläre Truppen und kurdische Stammeskrieger Tausende Armenier töteten und ihre Dörfer verwüsteten. Die Besetzung der Osmanischen Bank in Istanbul durch armenische Revolutionäre führte zwei Jahre später zum zweiten blutigen Massaker, dem schätzungsweise mehr als 50.000 Armenier zum Opfer fielen.

Das größte und folgenschwerste Massaker fand 1915 während des Ersten Weltkrieges statt. Wieder lieferte russische Einmischung den Vorwand: In der Armee des Zaren kämpften kaukasische Freiwillige, die hinter den Linien Armenier aus dem türkischen Teil des Landes zu rekrutieren versuchten. Das Triumvirat der Führer der jungtürkischen Partei, die unter dem kaltgestellten Sultan die eigentliche Macht im Osmanenreich innehatten, reagierte mit dem Befehl zur Deportation zunächst der im Kriegsgebiet lebenden, dann aller Armenier nach Syrien. Die „Deportation“ war als Völkermord geplant: Die Männer wurden ausgesondert und ermordet, Frauen und Mädchen geschändet und in Harems verschleppt und auf Elendszügen ohne Wasser qualvoll zu Tode gebracht, ganze Dorfbevölkerungen in Scheunen lebendig verbrannt. Schätzungen über den Blutzoll unter den 1,8 Millionen Betroffenen gehen von einem Drittel bis zu anderthalb Millionen.

Von diesem Verbrechen wissen wir vor allem aus deutschen Quellen. Diplomaten, Kaufleute und Missionare wie Pastor Johannes Lepsius, Gründer der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, berichteten voll Empörung nach Berlin. Franz Werfel setzte dem armenischen Kreuzweg in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ein literarisches Denkmal.

Kaiser und Reichsregierung sahen dem Treiben des türkischen Verbündeten dagegen einfach zu. So berechtigt der Vorwurf der Untätigkeit ist, so unsinnig ist die These, Deutschland sei Drahtzieher und Anstifter des Massakers gewesen. Sie geht letztlich zurück auf die Berichte des amerikanischen Botschafters in Istanbul, Henry Morgen- thau, der durchaus im Geiste anglo-amerikani­scher Kriegspropaganda wie seiner eigenen Voreingenommenheit Preußen und Deutschland hinter allem Bösen der Welt sah. Tatsache ist: Die Entscheidung zum Völkermord fiel in der Führung der Jungtürken-Partei und nicht beim Militär, in welchem Deutschland mit einigen hundert Beratern vertreten war. Deutsche Offiziere im türkischen Dienst wie General Liman von Sanders und Generalfeldmarschall von der Goltz versuchten dem Morden Einhalt zu gebieten und verhinderten Aktionen in ihrem Verantwortungsbereich. Den Westmächten ließe sich umgekehrt vorwerfen, daß sie nach Kriegsende nur zum Zwecke der Destabilisierung der Türkei auf Prozessen gegen die Schuldigen bestanden und sich schließlich mit einer juristischen Farce zufriedengaben.

Da aus der jungtürkischen Partei die Führungsschicht der kemalistischen Republik hervorging, ist es kaum verwunderlich, daß der Völkermord an den Armeniern in der Türkei bis heute ein Tabu ist und als bedauerliche Härte im Zuge einer legitimen Kriegshandlung gerechtfertigt wird. Abweichende Stimmen sehen sich massiven Anfeindungen ausgesetzt - wie der Historiker Taner Akcam, der mit der These provozierte: „An den Wurzeln des türkischen Staates liegt die Geschichte eines Massakers.“ Obwohl der türkische Innenminister 1915 auf die verspätete Anfrage aus Berlin lediglich knapp konstatiert hatte, die „armenische Frage“ existiere nicht mehr, gibt es dieses Volk noch. In der Türkei zählt man noch etwa 80.000 Armenier, bis heute als Christen wie als nationale Minderheit diskriminiert. Letzteres verbindet sie heute mit den Kurden, von denen sie vor hundert Jahren noch verfolgt wurden. Nur dreieinhalb der siebeneinhalb Millionen Armenier leben in der Republik, die lediglich ein Zehntel des historischen Siedlungsbodens umfaßt. Emigration gehört zum Schicksal dieses Volkes, dessen Leid mit Rücksicht auf mächtigere Nachbarn bis heute weitgehend ignoriert wird.

Das Europäische Parlament, der US-Kongreß und die Volksvertretungen Belgiens, Schwedens und Frankreichs haben die Massaker von 1915 inzwischen trotz wütender Proteste aus der Türkei als Völkermord anerkannt. Die armenische Gemeinde in Deutschland wartet auf ein solches Signal ihres Gastlandes bislang vergebens. Zur Vermeidung außenpolitischer Komplikationen tritt als Motiv die Sorge vor Unruhe unter der millionenstarken türkischen Bevölkerung in Deutschland. Die Situation ist paradox: Ein Land, in dem das Leugnen des einen Holocaust verboten ist, wagt ein anderes Genozid nicht zu verurteilen, aus Angst vor den Bürgern eines Staates, in dem das bloße Behaupten dieses Holocaust bereits ein staatsfeindlicher Akt ist.

„Drei Äpfel fielen vom Himmel: Der erste für den, der erzählt, der zweite für den, der zugehört, der dritte für den, der verstanden hat.“ So schließen die meisten armenischen Märchen. Am Deutschen Bundestag sind diese Äpfel der Erkenntnis bisher vorbeigefallen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen