© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Das Dilemma
Der Nato-Vertrag enthält keinen Automatismus für den bewaffneten Beistand
Josef Schüßlburner

Nach den Terroranschlägen in den USA gleicht die dortige Situation derjenigen von Österreich-Ungarn im Jahr 1914 nach dem Mordanschlag auf den Thronfolger in Sarajewo. Das scharfe Ultimatum, antiösterreichischen Umtrieben entgegenzutreten, wurde von Serbien, das als Basis eines den Balkan umfassenden Netzwerkes terroristischer Organisationen ausgemacht worden war, ausweichend und nach Mobilmachung der eigenen Truppen beantwortet. Der Automatismus der Bündnisverpflichtungen führte dann zum Ersten Weltkrieg, wofür schließlich vor allem Deutschland, das im Kampf gegen den politischen Terrorismus die Wiener Haltung unterstützt hatte, „schuldig“ gesprochen wurde. Droht nunmehr der BRD dasselbe Schicksal wie einst dem deutschen Kaiserreich wegen Österreich?

Zwar hat sich die Nato am 12. September darauf verständigt, von einem Fall des Artikels 5 des Nato-Vertrages auszugehen, sollte sich herausstellen, daß der Terroranschlag von außerhalb der USA gesteuert wurde. Es erscheint gerechtfertigt, von einem „bewaffneten Angriff“ im Sinne dieser Vorschrift zu sprechen, sollten die Anschläge im Auftrag eines Staates oder einer de-facto-Herrschaft, wie sie mit dem Talibanregime in Afghanistan vorliegt, durchgeführt worden sein. Der Nato-Vertrag enthält aber keinen Automatismus eines bewaffneten Beistandes. Bei der Formulierung des Vertrages war es nämlich der ausdrückliche Wunsch der USA gewesen, diesen Automatismus auszuschließen. Dies hat übrigens in der gesamten Zeit des „Kalten Krieges“ Zweifel hervorgerufen, ob die USA wirklich einer vom Warschauer Pakt überfallenen Bundesrepublik mit Waffengewalt zu Hilfe kommen und sich nicht statt dessen mit bloßen Durchhalteparolen als für erforderlich gehaltenes Mittel der kollektiven Selbstverteidigung begnügen würden.

Die Entscheidung über geeignet erscheinende Abwehrmaßnahmen obliegt also jedem Nato-Staat selbst. Ein Nato-Beschluß nach Artikel 5 gibt keine Rechtfertigung, den Verteidigungsfall im Sinne des Grundgesetzes auszurufen, und selbst Maßnahmen des Bündnisfalls (s. Art. 80a GG) erscheinen ziemlich unpassend. Als geeignete Verteidigungsmaßnahme Deutschlands würde sich die Aufhebung des Schengener Abkommens anbieten, das mangels einer Aufstockung der Polizeidichte als Kompensation für die Abschaffung der Grenzkontrollen einer effektiven Bekämpfung des globalisierten Terrorismus entgegensteht. Neben einer verschärften Ausländerpolitik (Forcierung der Abschiebungen, Verminderung der Einbürgerungen) wäre es an der Zeit, den Verfassungsschutz durch eine vernünftige Einrichtung zu ersetzen: Zur Abwehr des Terrorismus braucht man nämlich keine Stellen, die Zeitungen auf falsche Gedanken überprüfen.

Artikel 5 des Nato-Vertrages ist zur Verhinderung eines Automatismus, wie er zum Ersten Weltkrieg geführt hat, in den Rahmen des Uno-Systems eingepaßt. Der Einsatz bewaffneter Verteidigung ist gemäß Art. 51 der UN-Satzung nur so lange zulässig, bis der UN-Sicherheitsrat handeln kann. Da anzunehmen ist, daß der terroristische Angriff auf die USA abgeschlossen ist, droht keine akute Gefahr mehr, der man nicht anders als durch unmittelbaren Einsatz von Waffengewalt begegnen könnte. Damit ist die Angelegenheit an den Sicherheitsrat der Uno zu überweisen. An einer Festnahme der Täter, insbesondere wegen der deutschen Opfer des Anschlages in New York, muß sicherlich auch Deutschland ein Interesse haben. Da von einer Bedrohung des Weltfriedens jedoch nicht gesprochen werden kann, wäre jeglicher einseitige Einsatz von Waffengewalt durch die USA und ihre Nato-Verbündeten rechtswidrig, nicht zuletzt auch deshalb, weil dies dem Gewaltverbot der Uno widerspräche. Allein der UN-Sicherheitsrat kann dann Zwangsmaßnahmen beschließen, die man bei der Bewertung nach dem klassischen Völkerrecht durchaus als - legalen - Angriffskrieg ansehen könnte. Sollte jedoch der UN-Sicherheit einen derartigen Einsatz beschließen, bietet sich an, daß Deutschland Truppen erst zur Verfügung stellt, nachdem sämtliche Mitglieder des Sicherheitsrates dies getan haben. Zuerst müssen die privilegierten Staaten zeigen, daß sie ihrer besonderen Verantwortung gerecht werden.

Deutschland könnte durch die USA über die Nato dennoch in ein Dilemma gebracht werden, weil die USA den Krieg, der nach dem Völkerrecht zumindest seit Geltung der UN-Satzung verboten ist, gegebenenfalls auch ohne Uno machen werden. Und dies auch können, weil der Sicherheitsrat der Uno aufgrund des Vetorechts der USA nicht feststellen wird, daß ein illegaler Krieg vorliegt, womit „Nürnberg“ an ihnen vorübergeht. Diese besondere Lizenz zum Kriegführen, die die USA durch Zurückweisen der Zuständigkeit des geplanten Internationalen Strafgerichtshofs für US-Einsätze absichern wollen, erhöht sicherlich die Bereitschaft der anderen Mitglieder des Sicherheitsrates, doch mitzumachen und die Militäraktionen per Beschluß des UN-Sicherheitsrates zu „legalisieren“: Im Great Game um den eurasischen Raum, in dessen Rahmen Zentralasien von kundigen Experten schon lange als „Das Schlachtfeld der Zukunft“ (Scholl-Latour) erkannt worden ist, lassen sich dabei Punkte machen. Liegt ein derartiger Krieg wirklich in deutschem Interesse?

 

Josef Schüßlburner hat als Jurist von 1987 bis 1989 im Sekretariat der Uno, Referat für (Völkerrechts-)Kodifikation, in New York gearbeitet.


 
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