© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Eine Woche, die wir nie vergessen
USA: Augenzeugenbericht aus Manhattan / „Alle wußten sofort, daß es sich um einen Terror-Angriff handelte“
Matthew Richer

Am Dienstagmorgen war wunderschönes Wetter. Ich hatte einen Termin in Manhattan, ganz in der Nähe des Empire State Building. Mein Termin war für halb zehn angesetzt, aber ich war schon um 8.45 Uhr dort. Etwa um 8.55 Uhr rief mich einer der Männer, mit denen ich verabredet war, über Mobilfunk an und sagte: „Gerade ist ein Flugzeug auf das World Trade Center gestürzt.“ Er befand sich gerade auf der Fähre über den Hudson und sah alles aus nächster Nähe. In Wirklichkeit glaubte fast niemand an einen Unfall, wie es in der Berichterstattung immer wieder hieß. Alle wußten, daß es sich um einen terroristischen Angriff handelte.

Ich verbrachte den Rest des Tages im Büro vor dem Fernseher, in Gesellschaft zweier Männer, die ich nie zuvor gesehen hatte. Aus dem Fenster hatten wir ebenfalls einen ungehinderten Blick auf die Zwillingstürme in der Ferne. Mit dem bloßen Auge konnten wir das Gebäude schweln sehen. Ein Fernsehsender in einem benachbarten Gebäude schoß einen Film von dem Absturz, der glücklicherweise seither nicht mehr gezeigt worden ist.

Im Fernsehen schauten wir zu, wie brennende Menschen aus dem Gebäude sprangen. Ein Paar stürzte sich händchenhaltend in den Tod. Niemand von uns sprach ein Wort. Und dann blieb uns allen die Luft weg, als das zweite Flugzeug in den anderen Turm flog. Ich griff zum Telefon und rief meine Mutter an.

Während ich der Zerstörung zusah, glaubte ich immer noch nicht daran, daß die Türme fallen würden. Als der erste Turm in sich zusammenbrach, wurde mir klar, daß dies kein Terrorismus mehr war, sondern Krieg. Wahrscheinlich stand die ganze Stadt unter Beschuß. Wir rannten zur Treppe. Das Empire State Building war nicht weit weg, und wir befürchteten, daß es als nächstes angegriffen würde. Als wir nach draußen kamen, stürzte gerade der zweite Turm um. Die Menschen auf der Straße schrieen. Manche bekreuzigten sich. Die Straßen waren zum Bersten voll mit Menschen, die aus den umliegenden Gebäuden evakuiert worden waren. Sogar den Obdachlosen hatten die Ereignisse Beine gemacht. Alle liefen herum wie benebelt. Sie konnten einfach nicht glauben, was geschehen war. Viele versuchten ihre Freunde anzurufen - vergeblich, denn die Mobilfunk-Antennen befanden sich auf dem World Trade Center.

Die zwei Männer, die ich gerade kennengelernt hatte, wohnten außerhalb von Manhattan. Gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg, aber die Bürgersteige waren so überlaufen, daß wir durch den Central Park gehen mußten. Sämtliche Bars, Restaurants und Supermärkte in uptown New York waren überfüllt. Viele Läden machten einfach dicht.

Wir kauften uns Pizza und Bier von einem Imbiß, den ironischerweise ein Muslim betrieb, und gingen zurück zum Central Park. Während wir aßen, blickten wir auf die rauchende Skyline von Manhattan. Über der Stadt kreisten Kampfflugzeuge. Der Park war voll von Evakuierten. Niemand sagte viel. Alle saßen nur da und starrten dorthin, wo vor wenigen Stunden die Zwillingstürme gestanden hatten. Wir blieben bis zum Sonnenuntergang. Die beiden Fremden kamen in jener Nacht nicht nach Hause. Sie mußten bei mir übernachten. Hinterher waren wir keine Fremden mehr.

Am nächsten Morgen ging ich zum Blutspenden. Im Krankenhaus waren Dutzende von Menschen, die Fotos von ihren Angehörigen und Liebsten herumzeigten und auf jeden zugingen, der bereit war, ihnen zuzuhören: „Habt ihr diese Person gesehen?“ Sie waren einfach überall. Nach einer Weile fing man an, sie zu ignorieren, als wären sie Bettler, die ein bißchen Kleingeld haben wollten. Seit der Katastrophe herrschte in allen Krankenhäusern von Manhattan höchste Alarmbereitschaft. Hunderte von Ärzten und Pflegern warteten geduldig auf verletzte Überlebende. Es gab keine. Niemand hatte überlebt. Fast alle eingelieferten Patienten gehörten den Rettungsdiensten an. Und dennoch warten die Menschen immer noch und hoffen auf Nachricht von Überlebenden. Ich habe zwei gute Freunde verloren. Aber ich sehe keinen Sinn darin, ihren Tod zu verleugnen.

Am Donnerstagmorgen fuhr ich mit der U-Bahn in Richtung Manhattan. Einmal blieb der Zug zehn Minuten lang zwischen zwei Stationen stehen. Panik machte sich unter den Fahrgästen breit. „Warum fahren wir nicht weiter?“ Da wurde mir klar, daß das Leben in Manhattan nie wieder so sein würde, wie es war. Schließlich setzte sich der Zug wieder in Gang. Aber schon mittags mußte Manhattan wegen über neunzig Bombenalarmen geräumt werden. Wieder stand mir ein langer Nachhauseweg bevor. Es war ein heißer, sonniger Tag. Alle Kirchen standen offen und gaben Essen und gekühlte Getränke an Passanten aus.

Präsident Bush erklärte den Freitag zum nationalen Trauertag. Der Regen, der an diesem Tag in New York fiel, paßte zur Atmosphäre der Stadt. Ich ging in die St. Patrick-Kathedrale, das Mekka amerikanischer Katholiken. Trotz des Regens standen die Menschen endlos Schlange. Später kam Bush selber nach Manhattan, um das Schlachtfeld zu besuchen. Seine Ansprache an die Rettungsmannschaften wirkte wie eine Vitaminspritze auf die schwerverwundete Stadt.

 

Matthew Richer lebt in New York und berichtet als freier Journalist für die JUNGE FREIHEIT.


 
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