© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Gesucht: Tot oder lebendig
Terrorismus I: Der milliardenschwere Bauunternehmer Osama bin Laden gilt als Drahtzieher des Terrors gegen die USA
Michael Wiesberg

Seit der beispiellosen terroristischen Anschlagserie in New York und Washington kursiert als möglicher Drahtzieher der Name des saudi-arabischen Multimillionärs Osama bin Laden. Bin Laden, dessen Name schon länger ganz oben auf den US-Fahndungslisten steht, ist zur Inkarnation des Bösen mutiert, ein „Supermann des Grauens“, der „teuflische Ziele“ verfolge.

In der Tat hat bin Laden es nie an Deutlichkeit mangeln lassen, wenn er sich über seine Intentionen und Ziele geäußert hat. So erklärte er in einem Interview im Jahre 1998: „Wir glauben, daß die Amerikaner die größten Diebe und Terroristen der Welt sind. Unsere einzige Chance, diese Angriffe abzuwehren, besteht in der Anwendung ähnlicher Methoden, Wir machen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Militärs. Gemäß unserer Fatwa sind sie alle legitime Ziele.“

Diese Äußerung führt zu der Frage, woraus sich ein derartiger Haß motiviert. Bei der Klärung dieser Frage führt eine Dämonisierung bin Ladens nicht weiter. Einer der wenigen, die für differenzierende Zwischentöne gesorgt haben, ist der Frankfurter Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel. Dieser erklärte in einem Interview mit den VDI-Nachrichten: „Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: die Terroraktionen haben die USA nicht zu verantworten, aber an den tieferliegenden Ursachen sind die USA und Europa beteiligt.“ Czempiel bezog sich auf die rigorose Art und Weise, wie die USA, aber auch die Staaten Europas, ihre Interessen durchsetzten. Daß für bin Laden die „tieferliegenden Ursachen“, von denen Czempiel sprach, einen Gutteil der Motivation für terroristische Aktivitäten liefern, hat dieser in vielen Äußerungen zum Ausdruck gebracht.

Symbolfigur des militanten Islam

Inwieweit Bin Laden tatsächlich für die Anschläge am 11. September verantwortlich gemacht werden kann, werden die nächsten Wochen zeigen. Eines aber steht fest: Er ist zu einer Art Symbolfigur des militanten Islam geworden - für die einen ein Held, für die anderen das Böse schlechthin. Dabei deutete zunächst wenig darauf hin, daß bin Laden, der als eines von 54 Kindern des Scheichs Mohammed bin Laden wahrscheinlich 1955 in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda geboren wurde, zum internationalen Topterroristen werden könnte. Sein Vater, Mohammed bin Laden, kam als einfacher Maurer aus dem Jemen nach Saudi-Arabien und erwarb sich schnell die Gunst des Königs Abdul Aziz. Aus dieser Gunst resultiert der Reichtum der Familie: Der König übertrug Mohammed bin Laden die exklusiven Rechte für die Instandhaltung aller heiligen Stätten in Mekka, Medina und zunächst auch noch Jerusalem. 1968 verstarb bin Ladens Vater bei einem Flugzeugunfall.

Über die Jugendjahre bin Ladens gibt es unterschiedliche Quellen. Einmal wird behauptet, daß er schon früh als ungewöhnlich frommer Muslim aufgefallen wäre. Andere Quellen zeichnen ein anderes Bild. Ihnen zufolge lebte der Ökonomie- und Bauingenieurstudent bin Laden politisch bis 1979 zunächst eher ziellos dahin. Zum Wendepunkt wurde für ihn das Jahr 1979, als sowjetische Truppen Afghanistan besetzten. Bin Laden verließ Saudi-Arabien, um in Afghanistan gegen die Sowjets zu kämpfen. Die USA unterstützten mit Waffenlieferungen den Kampf der Mudschaheddin. Bis heute bestreiten bin Laden und die CIA, die die Mudschaheddin aktiv unterstützte, daß es in dieser Zeit zu direkten Kontakten gekommen ist.

Mitte des Jahres 1980 trat bin Laden als Mitgründer der Organisation Maktab al-Khidamat (MAK) in Erscheinung. Mitgründer war auch der Führer der Palästinensisch-muslimischen Brüderschaft, Abdallah Azzam. Diese Organisation sollte vorrangig den Einsatz von Geldmitteln und Mudschaheddin koordinieren. Die MAK etablierte rund um den Globus Anwerbebüros, die Freiwillige aus über 50 Staaten zum Kriegseinsatz nach Afghanistan schickten. Darüber hinaus wurden paramilitärische Trainingslager in Pakistan und Afghanistan errichtet. Etwa 10.000 Araber sammelten in Afghanistan Kampferfahrung, von denen mehr als die Hälfte aus Saudi-Arabien kamen.

In den späten achtziger Jahren trennte sich bin Laden von Azzam, weil er seine Aktivitäten über den ganzen Globus ausbreiten, Azzam sich aber ausschließlich auf die Unterstützung militärischer Aktionen von Moslems beschränken wollte. Bin Laden gründete daraufhin eine neue Organisation, die sich al-Qaida nannte. Zu dieser stießen nach der Ermordung von Azzam Teile des radikalen Flügels der MAK.

Nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan kehrte bin Laden nach Saudi-Arabien zurück. Seine Organisation beschränkte sich zunächst darauf, Oppositionsbewegungen in Saudi-Arabien und Jemen zu unterstützen. Bin Laden übernahm die Leitung des Dschihad-Komitees, das Dschihad-Organisationen im Jemen, die pakistanische al-Hadith-Gruppe sowie libanesische, ägyptische und algerische Gruppierungen umfaßte. Dieses Komitee dirigierte das Islamische Informationszentrum in London, das die Medienaktivitäten der in der Dschihad-Organisation zusammengefaßten Gruppen koordinierte.

1991 verlegte bin Laden seinen Wohnsitz in den Sudan. 1994 wurde ihm die saudi-arabische Staatsbürgerschaft aberkannt, weil er von Algerien, Saudi-Arabien und dem Jemen beschuldigt wurde, subversive Gruppen unterstützt zu haben. Gleichzeitig wurde er wegen seiner Hetze gegen das Königshaus aus Saudi-Arabien ausgewiesen. Der Sudan bietet und bot einer Reihe von Terroristen Unterschlupf, was nicht verhinderte, daß bin Laden und andere Mitglieder von terroristischen Gruppen im Mai 1996 aufgrund steigenden Druckes von seiten Saudi-Arabiens ausgewiesen wurden.

Bin Laden setzte sich daraufhin nach Afghanistan ab, wo er seine Aktivitäten fortsetzte. Sein persönliches Verhalten hat sich seit dieser Ausweisung grundlegend verändert. Er behauptet, Ziel mehrerer Mordversuche gewesen zu sein. Deshalb vertraut er nur noch einen kleinen Kreis von Eingeweihten. Einige Monate nach der Übersiedlung bin Ladens nach Afghanistan gewann die Taliban die Kontrolle über Kabul und Dschalabad, wo sich bin Laden von diesem Zeitpunkt an mit über fünfzig seiner Familienmitglieder und Leibwächter frei bewegen konnte. Im Februar 1997 weigerte sich die Taliban-Regierung, einem Auslieferungsbegehren der USA zu entsprechen. Die USA versuchten der Taliban diesen Schritt mit der Aussicht auf eine internationale Anerkennung und einem Sitz in der UN schmackhaft zu machen, doch die Taliban-Regierung zeigte sich unbeeindruckt.

Kampf gegen das Königshaus von Saudi-Arabien

Im März 1997 explodierten in Dschalabad mindestens zwei große Sprengkörper, die bin Laden ausschalten sollten. Dieser verließ Dschalabad daraufhin in Richtung Kandahar. Die Taliban-Regierung behauptete, daß bin Laden unter strenger Aufsicht stehe und daß jeder Versuch unterbunden werde, der auf eine Gefährdung der Sicherheit anderer Staaten, einschließlich Saudi-Arabiens, hinausliefe. Dennoch sickerte durch, daß bin Laden bis zu fünf Lager in Afghanistan unterhielt, in denen circa 200 Gefolgsleute versammelt waren. Darüber hinaus soll er an die 700 Mudschaheddin außerhalb von Afghanistan finanzieren. Bin Laden-Unterstützergruppen etablierten sich im Jemen, in Somalia und in der südostäthiopischen Ogaden-Region.

Mehr und mehr befürwortete bin Laden von 1996 an eine Zerstörung der USA, die er als Haupthindernis bei der Errichtung einer grenzenlosen islamischen Gesellschaft sieht. Dieses Ziel hat sich auch die von bin Laden finanzierte multinationale Organisation auf die Fahnen geschrieben, die die weltweite Radikalisierung islamistischer Gruppen betreibt. Durch die 1989 von bin Laden gegründete und finanzierte Organisation al-Qaida (dt. „die Basis“) werden Aktivisten in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien, Tadschikistan, Somalia, aber auch im Kosovo unterstützt. Al-Qaida bildet aber auch Mitglieder terroristischer Organisationen in Algerien, auf den Philippinen oder in Eritrea aus. Das Ziel ist die „Vereinigung aller Muslime und die Errichtung einer Regierung, die den Vorschriften der Kalifen folgt“. Dieses Ziel schließt, neben der Abschaffung der Staatsgrenzen zwischen den Mitgliedern der Umma, ein, daß nahezu alle derzeitigen Regierungen islamischer Staaten beseitigt werden müssen, die von bin Laden und seinen Anhängern als „korrupt“ und US-hörig denunziert werden.

Die Aufrufe bin Ladens, den Clinton als „größte Bedrohung für den Weltfrieden“ bezeichnete, Einrichtungen der USA und ihrer Alliierten weltweit anzugreifen, blieben keine Lippenbekenntnisse:

l 1993 war bin Laden in eine Operation gegen die amerikanischen Streitkräfte in Somalia verwickelt.

l 1995 wurde bekannt, daß er sich bereiterklärt habe, ein „Golf-Bataillon“ zu finanzieren, das von den iranischen Revolutionswächtern organisiert werden sollte. Bin Laden soll den fundamentalistischen jemenitischen Führer Scheich Abd-al-Majid al-Zandani überzeugt haben, diese Einheiten in dessen Lagern im Jemen unterzubringen, damit diese in der Golfregion zum Einsatz gebracht werden können, wenn die Umstände dies erlaubten.

l Bin Laden wird weiter verdächtigt, für einen Bombenanschlag auf Amerikaner in Dharan in Saudi-Arabien verantwortlich zu sein.

l Mitte 1996 konnte bin Laden verschiedene arabische Führer davon überzeugen, Gewalt gegen alle in islamischen Staaten stationierten ausländischen Streitkräfte anzuwenden. Darüber hinaus sollte ein Planungsstab zur Koordinierung von finanziellen, logistischen und militärischen Maßnahmen etabliert werden.

l Im August 1996 veröffentlichte bin Laden eine „Kriegserklärung“ gegen die USA. Daß Attacken auf die USA nicht sofort in die Realität umgesetzt werden würden, erklärte bin Laden mit der minutiösen Vorbereitung, die der Charakter der Schlacht erfordere.

l Im November 1996 pries er die Bombenanschläge in Riad und Khobar in Saudi-Arabien und kündigte an, daß weitere folgen würden. Er empfahl Angriffe auf US-Militärangehörige im Jemen und in Somalia: „Wir sollten sie“, so bin Laden, „aus Mogadischu hinausjagen.“ In einem Interview im Februar 1997 erklärte er, daß es besser sei, wenn „jemand einen amerikanischen Soldaten ermordet, als daß er die Zeit mit anderen Dingen verschwendet“.

l Im Februar 1998 verkündete bin Laden die Gründung einer neuen Allianz terroristischer Organisationen, die sich die „Internationale islamische Front für den Dschihad gegen Juden und Kreuzfahrer“ nennt. Das erklärte Ziel dieser Organisation: der Angriff auf Amerikaner und ihre Verbündeten.

Es folgten im August 1998 die spektakulären Terrorakte gegen die US-Botschaften in Tansania und Kenia, bei denen fast 300 Menschen ums Leben kamen und rund 5.000 verwundet wurden. Verantwortlich zeichnete eine Gruppe, die sich „Islamische Armee für die Befreiung heiliger Stätten“ nannte. US-Regierungsbeamte aber sind sich sicher, hier die Handschrift von bin Ladens al-Qaida-Organisation erkennen zu können. Es folgte ein mehr symbolischer denn effektiver Vergeltungsschlag der USA („Operation Infinite Reach“) gegen ein altes Mudschaheddin-Lager bin Ladens in Afghanistan bzw. eine pharmazeutische Fabrik in Khartum am 20. August 1998. Hauptinvestor dieser Fabrik, von der die fälschlicherweise USA mutmaßten, daß sie zur Herstellung von Chemiewaffen dienen sollte, soll bin Laden gewesen sein.

Ein wesentlicher Effekt dieser US-Vergeltungsschläge bestand auf seiten Bin Ladens darin, daß dieser daranging, die Führungsstrukturen seiner Organisationen zu dezentralisieren. Rund um die Welt wurden terroristische Zellen aufgebaut, die im Bedarfsfall aktiviert werden können. Diese Umstrukturierung erschwert die Aufklärungsarbeit der Geheimdienste ungemein und erklärt bis zu einem gewissen Grad, warum die USA scheinbar unvorbereitet Zielobjekt einer terroristischen Attacke werden konnten.

In der Folge wurden seitens der Uno Sanktionen gegen die Taliban-Regierung verhängt, die sich weiter weigerte, bin Laden auszuliefern. Die Taliban-Regierung verweist auch nach den Anschlägen vom 11. September immer wieder darauf, daß bin Laden ein „Gast“ sei, der aber unter Kontrolle stehe und angeblich über keine Kommunikationsmöglichkeiten mit seinen Gefolgsleuten verfüge.

Dies erscheint wenig glaubwürdig, erklärte doch Ende 1999 ein Verantwortlicher von al-Qaida, daß seine Organisation Kämpfer in Tschetschenien unterstütze. Im Dezember verhaftete die jordanische Polizei Mitglieder einer Gruppe, die Angriffe auf westliche Touristen plante. Diese Gruppe stand im Kontakt mit bin Laden. Mitte Dezember verhafteten Zollfahnder einen algerischen Schmugglerring, der 25 Kilo Sprengstoff und entsprechende Anweisungen in die USA bringen wollte. Die verhafteten Algerier trainierten in Afghanistan mit den dortigen Mudschaheddin und werden mit bin Laden in Verbindung gebracht.

CIA-Direktor George Tenet erklärte am 2. Februar 2000 vor dem US-Senat, bin Laden sei der exponierteste unter denjenigen Terroristen, die Angriffe auf die USA planten. Unter den 24 Terroristen, die seit Juli 1998 abgeurteilt worden seien, hätten allein die Hälfte mit bin Laden in Kontakt gestanden.

Bin Laden als Gast der Taliban in Afghanistan

Bin Ladens vielfältige Aktivitäten werfen immer wieder die Frage nach seiner materiellen Basis auf. Bin Laden hat in Unternehmen investiert, deren Geschäftstätigkeit die vielfältigsten Aktivitäten umfaßt. Darunter fallen der Handel mit Immobilien, Leasing von Flugzeugen, Schiffstransporte und andere Handelsaktivitäten. Seine europäischen Interessen werden durch Schweizer Anwälte wahrgenommen, die seine finanziellen Transaktionen zur Unterstützung von Terroristen zwar schwierig, aber nicht unmöglich machen.

Auch wenn aufgrund der bisherigen Aktivitäten bin Ladens vieles für eine Täter- oder Mittäterschaft des 44jährigen bei der Vorbereitung und Durchführung der Anschläge vom 11. September spricht: es ist keineswegs sicher, daß bin Laden tatsächlich der Drahtzieher gewesen ist. Die USA und ihre Verbündeten täten deshalb gut daran, auch vor dem Hintergrund möglicher Vergeltungsschläge, sich nicht nur auf eine Alleintäterschaft bin Ladens zu fixieren.

Motive für einen Terrorakt gegen die USA hat nicht nur ein bin Laden. Dessen Schatten ist inzwischen aber so lang, daß er andere Terrorgruppen (aber auch Geheimdienste) geradezu einlädt, diesen Schatten für ganz andere Zwecke nutzbar zu machen.


 
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