© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Gefühlter Amerikanismus
Der emotionalen Korrektheit liegt eine mediale Unmittelbarkeit des Todes zugrunde
Baal Müller

Als Fernsehzuschauer und Zeitungsleser erlebte man seit dem Terroranschlag auf World Trade Center und Pentagon ein Gefühlsbad nach dem anderen: Fassungslosigkeit, Entsetzen, Mitleid mit Opfern und Hinterbliebenen, ungläubiges Erstaunen, daß sich ein solcher Anschlag mit einfachsten Mitteln auf die waffenstarrende Supermacht durchführen ließ, dann jedoch auch, wenn man sich aus der medialen Dauerberieselung zurückzog, ein Unbehagen über die Einheitsfront, die nur deshalb so schlagartig die gesamte Öffentlichkeit erfaßte, weil sie vorher schon in ihr angelegt war.

Alle Parteien bis hin zur PDS zogen an einem Strang, auch die einstigen Pazifisten, Antimilitaristen und Antiamerikanisten standen hinter dem bis vor kurzem noch so geschmähten „Cowboy“ aus Texas, und die Boulevardpresse schäumte über vor Kriegshysterie: „Mr. President, retten Sie die Welt“ titelte die B.Z. am 14. September und legte eine amerikanische Flagge aus Papier bei, denn wir sind ja jetzt, nach Peter Struck, „alle Amerikaner“ - und Guido Westerwelle kennt, wie seinerzeit Kaiser Wilhelm „keine Parteien mehr, sondern nur noch Verantwortung“.

Während sich gerade Strucks Genossen in ihrer Kriegsbereitschaft wegen eines auch wesentlich symbolisch gemeinten Angriffs auf einen Bündnispartner 1914 sehr zögerlich zeigten, sind die einstigen „vaterlandslosen Gesellen“ heute in ihrem - amerikanischen - Vaterland angekommen, sie sind jetzt alle Amerikaner, wir jedoch nicht: Als Menschen fühlen wir mit den Opfern, als Menschen würden wir aber auch mit anderen Kriegs- und Katastrophenopfern auf der Welt mitfühlen, wenn ihre Schicksale in den Medien gleichermaßen präsent wären. Emotional und moralisch ist ein Bürgerkrieg im Kongo, ein Erdbeben in Indien genauso schrecklich wie ein Anschlag in Amerika; politisch und symbolisch ist es ein Unterschied.

Gegenwärtig überlagert der Gefühlsamerikanismus die Differenzen zwischen moralischer Emotion und politischer Rationalität zumindest in der medialen Öffentlichkeit, zum Glück jedoch noch nicht hinter den Türen der Entscheidungsträger. Die emotionale Korrektheit verdrängt die sonst übliche politische; auf einmal ist jeder ein Wehrexperte, und wer gestern die Bundeswehr ganz abschaffen wollte, spekuliert heute in der U-Bahn über Guerillakriege im afghanischen Bergland oder amerikanische Raketen in Talibanbesitz. Nur noch Unmenschen kommen jetzt auf die Idee, darauf hinzuweisen, daß die Politik der USA sowie ihre globale kulturelle und wirtschaftliche Dominanz zu solchen terroristischen Eskalationen beigetragen hätten; statt dessen regiert wieder einmal die Lichterkette. Daß sie heute weitaus berechtigter als bei anderen Anlässen ist, resultiert daraus, daß sie jetzt weniger politischem Kalkül und kalkuliertem Opportunismus als vielmehr einer tatsächlichen Betroffenheit entstammt.

Natürlich ist auch diese Betroffenheit medial vermittelt, schließlich haben wir die Katastrophe im Fernsehen „miterlebt“, aber sie ist nicht oder nicht primär wie die Betroffenheiten „gegen Rechts“ medial inszeniert. „Rechte Gewalt“ wird fast genauso selten live wahrgenommen wie ein Bürgerkrieg im Kongo (mit dem kleinen Unterschied, daß es diesen tatsächlich in großem Umfang gibt); daß man sich trotzdem und auch dann noch so sehr über sie erregt, wenn sie sich als bloßer Verdacht präsentiert oder als Verfälschung entlarvt wurde, hängt mit ihrer - stets nachträglichen - Dauerpräsenz zusammen.

Die Katastrophe in New York wurde jedoch in Echtzeit übertragen, nicht im nachhinein zu politischen Zwecken zusammengeschustert, sondern, zwar aus sicherer Distanz, aber doch direkt wahrgenommen. Die Betroffenheit ist somit unmittelbares Erlebnis, nicht bloß inszenierte Veranstaltung oder Produkt ideologischer Konditionierung; und da sie jeden emotional halbwegs normal Entwickelten ergreift - zumindest bei uns, wenngleich nicht unter fanatisierten islamischen Extremisten -, bewirkt sie eine weitaus größere Einheitlichkeit als die übliche politische Korrektheit, die stets durch eine große Differenz von öffentlicher und privater Meinung gekennzeichnet ist.

Diesen Unterschied tilgt die emotionale Korrektheit durch eine sonst nicht übliche mediale Unmittelbarkeit. Ihre Gefahr besteht natürlich in der weiteren Erosion des Politischen, der hysterischen Verabschiedung der wenigen von der politischen Korrektheit übriggelassenen Reste von politischer Kultur, von sachlicher, argumentativer Diskussion, deren Teilnehmer ihre eigenen Annahmen hinterfragen, statt sie beim Gegner zu vermissen.

Gleichwohl birgt die emotionale Korrektheit aufgrund der ihr zugrunde liegenden größeren medialen Unmittelbarkeit eine Chance für einen neuen Realitätssinn: Wenn das durch die Medien vermittelte Bild durch seine Übertragung in Echtzeit sowie durch den in dieser miterlebten Tod vieler Tausender Menschen als schreckliche und nicht bloß „virtuelle“ Realität erfaßt wird, dann verpuffen die technokratischen Utopien manchner zeitgenössischer Medien- und Kulturtheoretiker vor diesem Realitätsschock.

Die beliebig erzeugbaren virtuellen Bilder, hinter denen man die Realität zuweilen völlig zu vergessen beliebte, weichen wie Schemen den Bildern der Wirklichkeit, die von weltverneinenden Fanatikern einer bildlosen Religion zerstört werden. Wir würden gut daran tun, unsere Bilder und kulturellen Symbole (zu denen das World Trade Center nicht in jeder Hinsicht gezählt hat) wieder ernster zu nehmen, anstatt sie von virtuellen Bildern vernebeln zu lassen oder ständig unseren eigenen Untergang, bzw. den unserer virtuell gewordenen Gesellschaft, virtuell zu feiern - die Parallele zu dem US-Kinofilm „Independence Day“ wurde in den letzten Tagen fast so häufig gezogen wie diejenige zu Pearl Harbor.

Die mit diesem technizistischen Virtualitätswahn korrespondierende postmodern-liberale Traumtänzerei mit ihren „Visionen“ einer weltumspannenden multikulturellen Demokratie wird sich möglicherweise bald wie ihre Kehrseite der weltrevolutionären sozialistischen Diktatur als das erweisen, was sie tatsächlich ist: als ideologisches Konstrukt eines bloßen Teils der Welt, der westlichen Zivilisation, die jetzt noch um so mehr ihre Einheit und universale Geltung beschwört, je schmerzlicher ihr bewußt wurde, daß diese Einheit in Frage steht.

Unsere Vorstellung von einer weltweiten gemütlichen, aber langweiligen Spaßgesellschaft wird nicht nur von wenigen Terroristen, sondern von einer durchaus anderen Kultur, deren extremistische Exponenten diese Attentäter sind, so massiv bekämpft, daß es an der Zeit ist, erstens unsere eigenen kulturellen Grundlagen, deren Schwundstufe die Spaßgesellschaft ist, wiederzufinden und zweitens die geistigen und kulturellen Grenzen Europas und des Westens schärfer zu definieren. Wir dürfen nicht mehr die ganze Welt sein wollen, sondern wir wollen unser Teil der Welt sein dürfen.


 
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