© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Märchen am schmutzigen Fluß
Kino: „Suzhou River“ von Lou Ye ist eine Mixtur verschiedener Filmgenres
Claus-M. Wolfschlag

Der Fluß Suzhou wurde ursprünglich in der Ming-Dynastie (1368-1644) als Wasserstraße für den Transport von Handelswaren durch die Region Shanghai gebaut. Die zunehmende Industrialisierung der Millionen-Metropole brachte es dank mangelnden ökologischen Bewußtseins mit sich, daß sich das breite Naß heute als von tristen Betonburgen umstellte, schwer verseuchte Abfallhalde für Industriemüll und Abwässer präsentiert.

Wer in dieser Atmosphäre einen romantischen Einblick in die traditionelle chinesische Kultur erwartet, dürfte schnell enttäuscht werden. Die kulturellen Lebensverhältnisse gleichen sich im Zuge der Globalisierung weltweit an, einige Regionen ziehen dabei allenfalls ökonomisch und umwelttechnisch den Kürzeren. Das macht dann noch den Unterschied aus.

Auch der Regisseur und Drehbuchautor Lou Ye ist Opfer der kulturellen Angleichung, indem er beispielsweise des öfteren in seinem neuesten Film mit dem europäischen Meerjungfrauen-Motiv hantiert. Ye meinte hierzu: „Ja. Okay, sagen wir, die Meerjungfrauen symbolisieren die wahre Liebe. Aber Meerjungfrauen existieren nicht in China, die ganze Idee ist ein West-Import, wie Coca-Cola oder McDonald’s , diese globale Kultur, die es jetzt überall gibt. (...) Wir wollen keine Beamten einer kulturellen Einwanderungsbehörde sein und bestimmen, was chinesisch ist und was nicht. Es wäre simpel zu sagen, daß die Meerjungfrau mit blonden Haaren eine Art von europäischem Ideal verkörpert. Wen kümmert es, wenn Meerjungfrauen in der chinesischen Folklore nicht existieren?“

„Suzhou River“ sollte demnach ein realistischer Film normaler Gegenwarts-Menschen am Blutstrom der Stadt werden, fernab der Oberflächlichkeit, die die Yuppie-Viertel Shanghais auszeichne. Einer dieser Menschen ist ein namenloser junger Videofilmer, der als Ich-Erzähler durch die Straßen der Stadt streift und mit seiner Kamera Geschichten einfängt. Meist verbringt er seine Zeit damit, aus dem Appartementfenster auf den Fluß Suzhou und in sich selbst zu blicken und daraus Geschichten über unbekannte Menschen, die er auf Brücken sieht, zu erfinden.

Während eines Arbeitsauftrages lernt er seine Freundin Meimei (Zhou Xun) kennen, eine geheimnisvolle Gogo-Tänzerin, die im Aquarium eines Nachtclubs in einem Meerjungfrauenkostüm auftritt. Meimei erzählt dem Videofilmer von dem Motorrad-Kurier Madar, der einstmals seine Freundin verloren und diese daraufhin über Jahre hinweg im Dschungel der Großstadt gesucht hätte.

Der Videofilmer spinnt aus dieser Erzählung die Geschichte einer Freundschaft zwischen Madar (Jia Hongsheng) und dem Mädchen Moudan (Zhou Xun), angesiedelt im städtischen Kleinkriminellen-Milieu. Nachdem Madar Hilfestellung bei einer Entführung Moudans, bei der der Vater des Mädchens erpreßt werden sollte, geleistet hatte, springt das von ihrem Geliebten enttäuschte Mädchen in den Fluß - nicht ohne vorher erklärt zu haben, daß sie fortan als Meerjungfrau weiterleben und er sie suchen könne, wenn er sie noch liebe - und bleibt fortan verschollen...

Eines Tages wird der Videofilmer dann von Madar besucht, der eine mehrjährige Haftstrafe abgesessen hatte. Madar wiederum ist sich sicher, in dessen Geliebter Meimei seine alte Freundin Moudan wiedergefunden zu haben. Der Videofilmer erklärt ihm, daß er sich über die Vergangenheit Meimeis irren müsse. Dennoch kommt es zu einem komplizierten Dreiecksverhältnis mit der geschmeichelten Tänzerin im Meerjungfrauen-Kostüm. Eines Tages werden nach einem Motorradunfall die Leichen Madars und eines Mädchens aus dem Fluß geborgen, die Meimei sehr ähnlich sieht.

War alles nur Verwechslung? Oder die kranke Phantasie eines schuldbewußten Ganoven? War das Gesehene Realität gewesen oder nur eine Geschichte, geboren aus der Phantasie eines Videofilmers? Oder eine Endlos-Schleife, resultierend aus dem Wunsch nach absoluter Liebe, denn der Videofilmer findet auf dem verlassenen Hausboot Meimeis die Notiz: „Finde mich, wenn du mich liebst“.

„Suzhou River“ konnte nur mit finanzieller Hilfe des engagierten Berliner Produzenten Philippe Bober fertiggestellt werden. Mehrmals mußten dazu Fassungen des Streifens zur Bearbeitung nach Berlin geschmuggelt werden. Und obwohl der Film weltweit Erfolge feiert, konnte er in seinem Entstehungsland noch nicht gezeigt werden, da die chinesische Filmzensur bislang die Freigabe verweigert hat. Dabei ist das Ergebnis sehenswert.

Regisseur Lou Ye, der mit seinem 1994 gedrehten Erstling „Weekend Lover“ den Fassbinder-Preis in Mannheim-Heidelberg erhalten hatte, präsentiert dem Zuschauer eine spannende und auf angenehme Weise verwirrende Mixtur aus chinesischem Independent-Kino, Hitchcocks „Vertigo“ und bisweilen etwas anstrengender „Dogma 95“-Videoästhetik. Trotz seiner kulturellen Beliebigkeit hat es Lou Ye dabei vermocht, aus einer bedrückenden Situation an einem verkommenen Fluß einen bewegenden Film um Liebe, Leben, Tod, Romantik und Traurigkeit zu inszenieren, der vor allem durch die Verschiebung der Erzählebenen und die Verwischung von Realität, Traum und Phantasie besticht.


 
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