© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Aus heiterem Himmel
Durch Luftmacht zur Weltmacht: der Aufstieg der USA im 20. Jahrhundert
Jessica Rohrer

Wer nicht vom Kapitalismus reden wolle, solle vom „Faschismus“ schweigen. Dieses Verdikt aus dem ehernen Bestand linker Weltweisheiten läßt sich angesichts der Reaktionen auf die Attacken gegen New York und Washington leicht variieren: Wer nicht vom Imperialismus reden wolle, solle vom „Terrorismus“ schweigen.

Bisher hat sich aber allein Susan Sontag getraut, auf diesen evidenten Zusammenhang aufmerksam zu machen. Die im linksliberalen Establishment New Yorks beheimatete Star-Essayistin, die zu den (moderaten) jüdischen Kritikern Israels zählt, schrieb vier Tage nach dem 11. September in der Frankfurter Allgemeinen, daß die Angriffe nur als eine „Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten“ zu begreifen seien. Schon ein „Körnchen historischen Bewußtseins“ könne daher ausreichen, um die „Einstimmigkeit der frömmlerischen, realitätsverzerrenden Rhetorik fast aller Politiker und Kommentatoren in den Medien“, die an die „Platitüden sowjetischer Parteitage“ erinnere, zu transzendieren, und „das Geschehene und das Kommende“ zu verstehen.

Sontag beläßt es bei diesem Appell an das „historische Bewußtsein“. Aber ihr Beharren darauf, die Attentate als „Konsequenz“ US-amerikanischer Politik einzuordnen, könnte der geschichtsvergessenen, ihre „uneingeschränkte Solidarität“ gerade an den Stätten einstiger Luftkriegsbarbarei wie der Berliner Hedwigskirche oder dem Pariser Platz bekundenden bundesdeutschen Öffentlichkeit Anlaß zur Besinnung auf den politisch-geostrategischen Ertrag des vergangenen, des „amerikanischen Jahrhunderts“ sein. Denn solange das 20. Jahrhundert als Ganzes nicht erfaßt wird, fällt es allzu leicht, das deutsch-amerikanische Verhältnis auf Care-Pakete, Berliner Luftbrücke und Marshall-Plan zu reduzieren, das derart verwirrte Publikum auf „Dankbarkeit“ einzuschwören und zur Gefolgschaftstreue gegenüber einem „Freund“ zu vergattern, der aus „heiterem Himmel“ überfallen wurde - was allenfalls mit Blick auf die New Yorker Wetterverhältnisse am Dienstagvormittag stimmen mag.

Imperialismus, so definiert jedes Wörterbuch, sei die Bestrebung einer Großmacht, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich ständig auszudehnen. Im Sinne dieser Definition sind die USA zweifellos eine imperialistische Macht. Ihre aggressive Ausdehnungspolitik begannen sie damit, 1898, in einem ersten ihrer vielen noch folgenden Angriffskriege, die Reste des spanischen Weltreiches an sich zu reißen: Kuba und die Philippinen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der „maßlose Kontinent“ (Giselher Wirsing) das britische Empire aus seiner Weltmachtposition verdrängt und mußte mit seinem One-World-Expansionismus nur an den Grenzen einer anderen universalistischen Großmacht, Stalins Sowjetunion, halt machen. Der europäisch-asiatische Kontinent hatte sich zuvor in einem revolutionären, vor 1914 einsetzenden Prozeß dem universalistischen Lebenssystem der Pax Britannica zu entziehen versucht. Doch nach dem neuen Dreißigjährigen Krieg, der zwischen 1914 und 1945 tobte, waren Deutschland und Japan, die aus angelsächsischer Sicht gefährlichsten Exponenten einer multiporalen, in Großräumen und „Wohlstandsphären“ aufgeteilte, die Vielfalt der Kulturen bewahrenden Weltordnung, ausgeschaltet und der Pax Americana unterworfen worden. An Berlin, Tokio, Hiroshima und zahllosen anderen Städten der beiden „Achsenmächte“ exekutierten die angloamerikanischen Bombengeschwader, worauf sich seitdem der Weltmachtanspruch Washingtons stützt: die Fähigkeit, jeden potentiellen Feind mit Luftterror zu überziehen und „auszulöschen“ (US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz am 13. September). Von Dresden, Darmstadt, Würzburg, Nürnberg, Potsdam, Bremen, Hamburg oder Berlin, die im strategischen Luftkrieg des Bomber Command der Royal Air Force und der 8. US-Air Force untergingen, läßt sich die Spur der Verwüstung über Pjöngjang (1952) und Hanoi (ab 1965) bis nach Bagdad (1991) und Belgrad (1999) verfolgen.

Nordkorea, Vietnam, Kambodscha, der Mittlere und Nahe Osten, das waren Brennpunkte der Weltpolitik während des Kalten Krieges und danach, an denen die USA die Widerstände gegen den für ihre sozio-ökonomischen Fundamente geradezu konstitutiven Globalismus zunächst provozierten und dann im Namen der „Zivilisation“ und der „Menschheit“ mit Napalm und Flächenbombardements „verteidigten“. Die von den USA ausgerüstete Luftwaffe ihres nahöstlichen Hauptverbündeten Israel erwies sich vor allem in den letzten beiden (1967 und 1973) der vier (sieht man von der Invasion Libanons 1982 ab) gegen arabische Nachbarn geführten Feldzüge als kriegsentscheidend. Flankiert von den Luftüberfällen Israels auf den irakischen Atomreaktor Tamuz I (1981), der Aggression gegen Tunesien (1985), den US-Bombenangriffen auf Bengasi und Tripolis (1986), stützt Washington seinen Pan-Interventionismus gerade dort auf Luftstreitkräfte, wo der religiös formulierte Ruf nach einem „Interventionsverbot“ für die raumfremde, aufs Erdöl zugreifende Macht der Ungläubigen am lautesten erklingt und inzwischen den stärksten Widerhall der Massen findet: im arabischen „Großraum“. Symbolkraft kommt daher nicht nur den Zielen der Attentate, den Zentren des ökonomischen und militärischen US-Globalismus, World Trade Center und Pentagon, sondern auch der Ausführungsweise selbst zu: dem Angriff aus der Luft.

Der Publizist Thierry Wolton, der mit dem ihm politisch konträren Alain de Benoist in einer spezifisch französischen Tradition das von Sontag in den USA und in der BRD vermißte „historische Bewußtsein“ bewahrt, beendete seinen 1999 veröffentlichten Jahrhundertrückblick mit einem fast prophetischen Satz: „Solange die liberalen Demokratien keine angemessenen Antworten auf die Frage finden, wie den religiösen, ethnischen und kulturellen Verschiedenheiten Rechnung zu tragen ist, solange sie nicht entscheiden können, wo die Pflicht zur Einmischung aufhört und das Recht auf Verschiedenheit beginnt, laufen sie Gefahr, weiter die Weltfeuerwehr spielen zu müssen, ohne die Brände des Widerstands löschen zu können, die ihre Selbstgerechtigkeit entfacht“.


 
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